Mythos oder Fakt? - Sind Absoluthörer:innen besonders musikalisch, kommen alle Menschen als Absoluthörende auf die Welt und kann man absolutes Gehör lernen? In diesem Artikel beantworte ich die Top 10 Fragen, die mir regelmässig zum absoluten Gehör gestellt werden.
Absolutes Gehör ist die seltene Fähigkeit, einen Ton ohne Verwendung eines Referenztons zu benennen oder zu erzeugen (z.B. bei Aufforderung zu singen). In der Allgemeinbevölkerung haben weniger als 1% der Menschen ein absolutes Gehör, während die Prävalenz bei professionellen Musiker:innen deutlich erhöht ist. Studien schätzen, dass etwa 7.6% - 15% der Musikstudierenden und prrofessionellen Musiker:innen ein absolutes Gehör besitzen. Relatives Gehör, die Fähigkeit, die Beziehungen von Tönen (d.h. Intervalle und Melodien) zu analysieren und bei entsprechendem Training auch explizit zu benennen, ist dagegen bei den meisten Musiker:innen vorhanden und im Vergleich zu Amateur-Musizierenden und Nicht-Musiker:innen besonders gut trainiert.
In meiner Doktorarbeit (Bio, Medien) habe ich sehr viele Absoluthörende kennen gelernt und auch verschiedene neurowissenschaftliche, psychologische und kognitive bzw. perzeptuelle Experimente am Institut für Musikphysiologie und Musikermedizin der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover unter Supervision von Prof. Eckart Altenmüller durchgeführt. Insgesamt über 60 Absoluthörende und Relativhörende Musikstudierende habe ich dabei untersucht. Oft hatte nicht nur ich Fragen, die ich mit meinen Experimenten beantworten wollte, sondern viele der Teilnehmenden sowie Menschen in meinem Bekanntenkreis stellten mir Fragen zum Mysterium absolutes Gehör.
Die 10 häufigsten Fragen zum absolute Gehör habe ich in diesem Artikel aufgelistet und beantworte sie, soweit es der aktuelle Forschungsstand erlaubt.
#1: Habe ich ein absolutes Gehör und wie kann ich es testen?
"Ein absolutes Gehör" ist hier wörtlich gemeint, denn "das" absolute Gehör gibt es nicht. Absolutes Gehör ist definiert als die Fähigkeit, musikalische Töne ohne Referenzton benennen oder generieren zu können (z.B. per Gesang oder mit einem elektronischen Tongenerator). In Studien wird fast immer die Benennung von Tönen verwendet, um zu überprüfen, ob jemand absolut hört. Es besteht dabei keine Einigkeit, ab welchem Prozentsatz richtig benannter Töne jemand als Absoluthörer:in gilt. Meistens wird ein Cutoff, also ein Grenzwert, festgelegt, der so hoch ist, dass es unwahrscheinlich ist, ihn per Zufall zu erziehen. Trotzdem gibt es oberhalb des Cutoffs (und auch darunter) eine grosse Streuung und Variation zwischen den Personen. Meistens werden in Studien zudem künstliche Töne (Sinustöne) verwendet, anstatt realistischer, komplexer Töne von Musikinstrumenten, wie in einfacherern online Selbst-Tests (z.B. hier). Das Erkennen von Tönen auf echten, besonders dem eigenen, vertrauten Instrument, ist oft einfacher, weil es viel mehr Informationen enthält, z.B. über die Instrument- und Tonhöhenregister-spezifischen Klangfarben (z.B. leere Saiten, Töne mit guter vs. schlechter Resonanz). Diese zusätzlichen Informationen helfen, die Höhe eines Tones einzuschätzen. Es ist deshalb häufig so, das selbst "echte" Absoluthörende auf ihrem eigenen Instrument besser abschneiden, als auf ihnen fremden Instrumenten.
Trotzdem ist nicht jede:r der oder die Töne auf dem eigenen Instrument benennen kann Absoluthörer:in. Das gilt besonders für Sänger:innen, denn das Muskelgedächtnis spielt beim Musizieren eine entscheidende Rolle und Sänger:innen haben im Gegensatz zu Instrumentalist:innen keine visuelle Kontrolle des Lagegefühls der beteiligten Körperteile. Aber auch Instrumentalist:innen "fühlen" oft in den Muskeln, wo in etwa auf dem Instrument sich ein Ton befinden muss, wenn sie diesen nur hören. In der Wissenschaft behandelt man dies daher unter dem Begriff "pseudo-absolutes Gehör". Ein genuines ("echtes" absolutes Gehör) ist dagegen unabhängig von der Klangquelle, auch wenn die Genauigkeit trotzdem bei vertrauten Instrumenten meist sehr viel besser ist. Am einfachsten erkennt man schon an der Beschreibung, ob jemand absolut hört. Absoluthörende wissen meistens lange gar nicht, dass sie etwas können, das nicht jeder kann, und es ist für sie völlig natürlich. Sie konnten schon immer Noten nach Gehör bennen, und sie brauchen nicht lange nachdenken - sie "wissen" es einfach.
Häufig kommt auch das sogenannte "partielle absolute Gehör" vor, das heisst, dass bestimmte Töne besser erkannt bzw. generiert werden können, als andere. Selbst sehr genaue Absoluthörende sind meistens bei schwarzen Tasten - insbesondere A# oder G# (weil sehr nah nehmen dem Stimmton A) - unsicherer, ungenauer oder verwechseln Oktaven. Auch in den sehr hohen und sehr tiefen Registern sind die Meisten nicht mehr so gut im Töne erkennen. Manche Absoluthörende erkennen tatsächlich auch nur einzelne, spezifische Töne. Nur den Stimmton erkennen zu können ist dagegen kein absolutes Gehör, denn diese Fähigkeit ist wiederum durch sehr viele kontextabhängige Trigger (z.B. Beginn des Übens, der Probe, des Konzerts) so eng mit der Bewegung und Wahrnehmung verknüft und so stark begrenzt, dass man es nicht als generell absolut bezeichnen kann.
Ganz selten ist absolutes Gehör so absolut und - wie der englische Begriff "perfect pitch" suggeriert - perfekt, dass eine Person völlig unabhängig vom Instrument alle Töne gleich genau erkennt und sogar Geräusche tonal einordnen kann. Nicht selten kommen solche Spezialbegabungen jedoch bei Autismus vor (siehe #7 Warum haben Menschen mit Autismus häufiger ein absolutes Gehör? ).
#2: Ist absolutes Gehör angeboren?
#3: Stimmt es, dass alle Menschen als Absoluthörende auf die Welt kommen?
#4: Hören Asiat:innen häufiger absolut, weil sie tonale Sprachen sprechen?
#5: Stimmt es, dass man das absolute Gehör trainieren kann?
#6: Sind Absoluthörer:innen musikalischer oder intelligenter?
#7: Warum haben Menschen mit Autismus häufiger ein absolutes Gehör?
#8: Stimmt es, dass sich das absolute Gehör verstimmen kann?
#9: Stimmt es, dass Absoluthörende Schwierigkeiten mit Intervallen, Transposition und historischer Stimmung haben?
#10: Hast du selbst ein absolutes Gehör?
Hören Tiere absolut?
Tiere hören bekanntlich häufig besser als Menschen, zumindest was den Frequenzbereich und die Hörschwellen angeht. Einige Tierarten wurden zudem daraufhin untersucht, ob sie absolute oder relative Tonhöhen-Informationen hören bzw. zur Kommunikation benutzen. Dabei konnten Studien zeigen, dass zum Beispiel Wölfe und Ratten Gruppenmitglieder anhand von absoluten Tonhöheninformationen erkennen. Stare und Rhesusaffen sind diesen Tieren gegenüber weiter fortgeschritten: sie nutzen primär absolute Tonhöhen-Informationen, können aber relative Informationen benutzen und Affen können auch Oktaven als äquivalent erkennen - eine besonders hoch entwicklete Fähigkeit des relativen Gehörs. Das das absolute Gehör bei Tieren die Regel ist und meist nur höher entwickelte Tiere auch besonders relative Tonhöheninformationen berücksichtigen ist ein weiteres Indiz dafür, das relatives Gehör die eigentlich wichtigere Fähigkeit für Menschen ist. Dies kann auch ein Grund sein, warum für Menschen Musik eine so hohe Bedeutung hat: Musik besteht nunmal aus Melodien und Melodien sind per Definition relativ, denn es kommt darauf an, wie die Töne zueinander stehen.
Meine Katze Smilla erkennt meine Stimme und meine Schritte übrigens schon aus grosser Entfernung. Ob sie dazu relative oder absolute Informationen nutzt, kann ich jedoch leider nicht sagen.
Quellen und weiterführende Literatur
Altenmüller, E., & Klöppel, R. (2015). Die Kunst des Musizierens: von den physiologischen und psychologischen Grundlagen zur Praxis. Schott Music.
Hulse, S. H., & Cynx, J. (1985). Relative pitch perception is constrained by absolute pitch in songbirds ( Mimus, Molothrus, and Sturnus ). Journal of Comparative Psychology, 99(2), 176–196.
Wenhart, T., Bethlehem, R. A., Baron-Cohen, S., & Altenmueller, E. (2019). Autistic traits, resting-state connectivity, and absolute pitch in professional musicians: shared and distinct neural features. Molecular autism, 10, 1-18.
Wenhart, T., & Altenmüller, E. (2019). A tendency towards details? Inconsistent results on auditory and visual local-to-global processing in absolute pitch musicians. Frontiers in psychology, 10, 31.
Wenhart, T., Hwang, Y. Y., & Altenmüller, E. (2019). Enhanced auditory disembedding in an interleaved melody recognition test is associated with absolute pitch ability. Scientific reports, 9(1), 7838.
Wenhart, T. (2019). Absolute pitch ability, cognitive style and autistic traits: a neuropsychological and electrophysiological study (Doctoral dissertation, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover).
Wright, A.A. et al. (2000) Music perception and octave generalization in rhesus monkeys. J. Exp. Psychol. Gen. 129, 291–307
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