Aufmerksamkeitsblinzeln, Change Blindness & Monkey-Illusion - Beim Üben und Musizieren spielt Konzentration eine wesentliche Rolle. Doch Musizieren erfordert deutlich mehr Funktionen der Aufmerksamkeit als nur Wahrnehmung und Konzentration. Hier geht es um die Neuropsychologie der Aufmerksamkeit und welche Effekte jede:r Musiker:in kennen sollte, um erfolgreich zu üben und zu musizieren.
Aufmerksamkeit beim Instrumentalspiel - wie sollte man richtig Musik üben?
Phänomene und Illusionen menschlicher Aufmerksamkeit und ihre Bedeutung beim Musizieren
Zahlreiche Phänomene und Illusionen aus der Psychologie zeigen, wie stark menschliche Aufmerksamkeit begrenzt ist: 1) In der Menge an Reizen, die gleichzeitig oder nacheinander verarbeitet werden kann 2) In der Fähigkeit, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun.
Attentional Blink:
Wenn wir unser Aufmerksamkeit nacheinander auf verschiedene Dinge richten kommt es vor, dass wir eines von beiden übersehen. Man nennt dieses Phänomen "Attentional Blink"- das Blinzeln der Aufmerksamkeit. Der Grund für diesen Effekt ist, dass das Gehirn Zeit braucht, die den Fokus der Aufmerksamkeit ("Spotlight") zu verschieben und zugleich Nervenzellen eine gewisse Erholungszeit benötigen ("Refraktärzeit").
Dieser Effekt ist beim Musizieren- insbesondere bei noch nicht beherrschtem oder schwierigem Material sehr häufig zu beobachten. Man konzentriert sich auf eine bestimmte Stelle oder ein Problem, und verspielt sich in der Stelle danach (oder häufig auch jene). Im Umkehrschluss nimmt man meist fälschlicherweise die misslungene Stelle als Problem war, während das Problem in der Nachbarstelle liegt.
Monkey Illusion:
Die Monkey- Illusion ist ein klassisches psychologisches Experiment durch das deutlich wird, dass wir Menschen nur begrenzte Kapazitäten haben, alle Reize in unserem Umfeld aufzunehmen. Das Gehirn führt permanent eine Filterung der Reize nach wichtig und unwichtig durch. Diese Bewertung ist sowohl von Instinkten (bedrohliches) wie auch von Salienz (offensichtliche Andersartigkeit eines Reizes) und Lernerfahrung abhängig. Besonders, wenn wir uns stark auf eine Sache konzentrieren, entgehen uns jedoch andere Dinge, wie die Monkey-Illusion zeigt:
Für das Instrumentalspiel ist deshalb entscheidend sich bewusst zu machen, dass uns häufig Dinge entgehen, wenn wir uns stark auf eine Sache konzentrieren. Konzentrieren wir uns zum Beispiel auf die Phrasierung, geht eventuell die Intonation schief, oder konzentrieren wir uns auf unsere eigene Stimme, verpassen wir eventuell Details anderen Stimmen. Die Fähigkeit zur Crossmodalen Integration und ein breiter räumlicher Aufmerksamkeitsfokus sind deshalb besonders wichtig zu trainieren.
Change Blindness:
Die Veränderungs-Blindheit bezeichnet das Phänomen, dass Menschen, wenn sie sich auf eine bestimmte Aufgabe konzentrieren, Veränderungen ihrer Umgebung häufig nicht wahrnehmen.
Wie bei der Monkey-Illusion liegt die Ursache darin, dass das Gehirn in dem Moment den Fokus auf eine bestimmte Tätigkeit richtet, und scheinbar unwichtige Reize ausblendet. Suchst du mich als rothaarige Person beispielsweise an einem vollen Bahnhof und hältst konzentriert nach einer rothaarigen Person Ausschau, kann es sein, dass ich direkt neben dir stehe und dich dreimal anspreche, bist du realisierst, dass ich es bin, da ich eine Mütze aufhabe.
Formen der Aufmerksamkeit in der Psychologie
In der Experimental-Psychologie - auch "Allgemeine Psychologie" bezeichnet, da es sich im Grundlegende Funktionsweisen des menschlichen Erlebens und Verhaltens handelt - wird Aufmerksamkeit in verschiedene Unterfunktionen unterteilt. Auch in der Klinischen Neuropsychologie, also der Behandlung von kognitiven Symptomen nach neurologischen Erkrankungen wie einem Schlaganfall, sind Funktionen der Aufmerksamkeit sehr häufig betroffen. Deshalb gibt es eine Reihe von Tests, mit denen diese Funktionen überprüft werden können. Während meiner langjährigen Tätigkeit in einer neuropsychologischen Tagesklinik für Rehabilitation neurologischer Erkrankungen habe ich zahlreiche Patient:innen mit solchen Problemen untersucht und behandelt.
Selektive Aufmerksamkeit
Selektive Aufmerksamkeit beschreibt, was wir landläufig als "Konzentration" bezeichnen. Einen Zustand, in dem wir uns auf eine Sache fokussieren und versuchen, diese Aufgabe bestmöglich, schnellstmöglich und möglichst fehlerfrei zu erledigen (z.B."Ich will diesen Takt sauber intonieren"). Dabei geht es sehr häufig darum, andere, irrelevante Informationen auszublenden. Ein typischer Test für selektive Aufmerksamkeit ist der "d2": die Aufgabe darin besteht, möglichst schnell und mit möglichst wenigen Fehlern alle "d" mit zwei Strichen durchzustreichen, nicht jedoch alle anderen Varianten von Zeichen. Wie bei anderen menschlichen Leistungen auch sind gesunde Menschen unterschiedlich fähig in dieser Aufgabe.
Geteilte Aufmerksamkeit
Geteilte Aufmerksamkeit beschreibt, was wir landläufig als "Multitasking" bezeichnen. Wie der Begriff schon sagt, müssen wir uns dabei auf zwei verschiedene Aufgaben gleichzeitig konzentrieren. Leider kann das Gehirn kein echtes Multitasking bewusster, kognitiver Aufgaben leisten. Was wir stattdessen tun ist ein sehr schnelles "Switch-Tasking", also ein wechseln zwischen den beiden Aufgaben (z.B. "Ich will diesen Takt auswendig spielen und gleichzeitig die Dynamik optimal gestalten und meinen Körper entspannen"). Typischerweise habe ich mit Patient:innen in der Neuro-Reha eine Aufgabe zur geteilten Aufmerksamkeit aus der "Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung" durchgeführt, bei der sie sowohl auf visuelle Reize (bestimmte Zahlen in einer Zahlenreihe) reagieren, als auch auf gelegentliche akustische Reize.
Alterness, Vigilanz und Daueraufmerksamkeit
Diese drei Funktionen beschreiben die Intensität der Aufmerksamkeit. Alertness ist als allgemeiner Wachzustand die Basis aller anderen Aufmerksamkeitsfunktionen und wird häufig mit allgemeiner Reaktionszeit auf einfache Reize untersucht. Vigilanz ist die Fähigkeit, die Reaktionsbereitschaft auch bei sehr monotonen Bedingungen und seltenen Reizen aufrecht zu erhalten. Daueraufmerksamkeit beschreibt die Fähigkeit, einen konzentrierten Zustand über längere Zeit aufrecht zu erhalten. Diese grundlegenden Funktionen sind häufig allgemein nach Erkrankungen des Gehirns, aber auch bei chronischem Fatigue-Syndrom, Long-Covid und auch neuropsychologischen Entwicklungsstörungen wie ADHS und Autismus beeinträchtigt oder verändert.
Crossmodale Integration
Die crossmodale Integration ist ein Grenzfall zwischen Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsfunktion. Hierbei geht es darum, Reize verschiedener Sinnesmodalitäten (z.B. Hören und Fühlen), als Einheit zu verarbeiten. Diese Funktion ist für das Instrumentalspiel besonders relevant, da z.B. Lagegefühl am Instrument, mit Höreindruck und Notenbild vereint und abgeglichen werden müssen. Auch das Integrieren verschiedener Sinne (Hören, Sehen, Tasten, Körpergefühl) und verschiedener muskalischer Aspekte gleichzeitig kann unter Umständen ganzheitlich (crossmodal) besser geleistet werden, als serielle im Switch-Tasking.
Räumliche Aufmerksamkeit
Räumliche Aufmerksamkeit kann man sich wie das Sichtfeld der Augen vorstellen. Es ist die räumliche Ausdehnung der Aufmerksamkeit vor allem im Sehen und im Hören. Diese Aufmerksamkeit kann durch Augenbewegung oder Sinnesreize aus der entsprechenden Zielrichtung relativ leicht im Raum verlagert werden. Schwieriger ist es, die Aufmerksamkeit ohne Veränderung der Blickrichtung willentlich auf einen anderen Teil des Raumes zu verlagern. Eine typische neurologische Störung nach rechtsseitigem Schlaganfall ist der (visuelle) Neglect.
Flexibilität, Impulskontrolle & Arbeitsgedächtnis
Auch diese drei Funktionen sind Grenzfälle der Aufmerksamkeit. Ich würde sie daher eher allgemein den exekutiven Funktionen zuzählen. Aufmerksamkeitsflexibilität ist nötig, um zwischen verschiedenen Zielen der Aufmerksamkeit zu wechseln, d.h. das sogenannte "Spotlight" der Aufmerksamkeit auszurichten. Impulskontrolle wird mit sogenannten "Go-NoGo" Tests untersucht, bei denen man auf Reize nach bestimmten Zielreizen nicht reagieren darf. Zum Beispiel muss auf jede 3 reagiert werden, aber nicht, wenn zuvor eine 5 auf dem Bildschirm erscheint. An bestimmten Stellen in einem Musikstück nicht Atmen zu dürfen wäre bespiele eine Art Go-NoGo-Aufgabe. Arbeitsgedächtnis bezeichnet die Fähigkeit, kurzzeitig Informationen im Gedächtnis zu behandeln und etwas damit anzustellen. Wir brauchen es zum Beispiel, um zu Rechnen oder um eine Stelle in einem Stück rückwärts zu spielen oder zu transponieren.
Neuropsychologische der Aufmerksamkeit - linkes und rechtes Gehirn
Neglect, Sprache und Musik
Aufmerksamkeit und im speziellen räumliche Aufmerksamkeit ist eine derjenigen Funktionen des Gehirns, die die Wissenschaft durch neurologische Patienten genauer verstanden hat. Patient:innen mit einer neurologischen Schädigung der rechten Gehirnhäfte im Bereich des Scheitellappens ( z.B. nach einem Schlaganfall einer der typischerweise betroffenen Hirnarterien auf der rechten Seite) haben nämlich sehr häufig einen sogenannten "Neglect". Obwohl ihre Sinne und Sinneszentren im Gehirn intakt sind, vernachlässigen diese Patient:innen eine Hälfte der Welt und übersehen Reize auf dieser Seite. Die häufigste Form ist der visuelle Neglect: obwohl die Patienten keine Seh- oder Gesichtsfeldstörung haben, existiert für sie visuell nur die Hälft der Welt und sie halten das auch für völlig normal. Wenn man diese Patient:innen bittet, eine Uhr zu zeichnen, zeichnen sie typischerweise nur eine halbe Uhr oder quetschen alle Zahlen in eine Hälfte. Manchmal vernachlässigen die Betroffenen auch eine Hälfte der akustischen Welt oder ihres eigenen Körpers. Im Gegensatz zu einer Störung des Sehens oder einer halbseitigen Lähmung kann man diesen Patient:innen jedoch beibringen, durch willentliche Verlagerung der Aufmerksamkeit (meist durch Hinsehen), diese Seite der Welt wieder zu erfassen. Durch die Erkenntnisse anhand solcher Patient:innen ist also klar: Sinnesreize zu sehen oder zu hören ist nicht allein durch die Sinne bedingt. Ohne Aufmerksamkeit werden uns diese Informationen nicht bewusst.
Überhaupt kann man aus den Symptomen und Ausfällen neurologischer Patient:innen oft sehr gut schliessen, wo im Gehirn ein Schaden entstanden ist. Die typischen Schlaganfälle grösserer Gehirnarterien führen in der Regel eher zu einseitigen Schädigungen. Ist die linke Hemisphäre (linke Seite aus Sicht der Person) betroffen, kommen je nach Grösse der Schädigung sehr häufig eine Störung der Sprachfunktionen, des Sprechens, eine Lähmung der rechten Körperseite und eine durch das Gehirn bedingte Blindheit im rechten Gesichtsfeld vor. Bei einem Schlaganfall, der überwiegend die rechte Gehirnhälfte betrifft, sind dagegen die linke Körperhälfte und das linke Gesichtsfeld beeinträchtigt - es tritt eben häufig ein Neglect oder andere Aufmerksamkeitsstörungen auf. Manchmal sind insbesondere bei rechtsseitigen Schlaganfällen auch Funktionen der Musikwahrnehmung betroffen. Diese sind jedoch sehr viel seltener als zum Beispiel Störungen der Sprache oder Lähmungen. Da für die Musikwahrnehmung sehr viele Zentren im ganzen Gehirn benötigt werden, fällt durch einen Schlaganfall meist nur ein kleiner Teil davon weg. In meiner Arbeit mit neurologischen Patient:innen in der Reha ist mir nur ein Fall von solch einer Beeinträchtigung der Musikwahrnehmung in Erinnerung geblieben. Es kann jedoch sein, dass manche Fälle unentdeckt blieben, wenn die entsprechenden Personen weniger musik-affin waren und daher solche Probleme nicht bemerkten.
Tipps, um die Aufmerksamkeit beim Üben und Musizieren optimal einzusetzen
Zahlreiche Studien aus der Musikphysiologie und der Neurowissenschaft des Musizierens konnten zeigen, welche Formen des Übens und der Lenkung der Aufmerksamkeit am effektivsten für den Übe-Erfolg und die Lenkung der Aufmerksamkeit sind.
Fokus der Aufmerksamkeit auf den Effekt der Bewegung anstatt auf die Bewegung selbst (Duke et al., 2011).
Distaler, d.h. breiterer, in die Peripherie gerichteter, externer Fokus der Aufmerksamkeit anstatt nach innen oder in die Mitte gerichtet (Duke et al., 2011). Hilft ausserdem auch bei Auftrittsangst
"Kreisende Aufmerksamkeit" - willenliche Lenkung der Aufmerksamkeit auf verschiedene Aspekte der Musik und der Ausführung und regelmässiges Wechseln zwischen diesen. Dieses Vorgehen verhindert, dass man sich nur auf einen Aspekt konzentriert und (z.B. wegen zu selektiver Aufmerksamkeit) andere Aspekte übersieht und noch dazu durch Wiederholung falsch einübt.
Die umliegenden Takte um Stellen, die immer misslingen mit in die Fehleranalyse mit einbeziehen. (siehe Attentional Blink)
Fokus auf bzw. Üben von Integration verschiedener Sinne und Aspekte der Musik in eine ganzheitliche Einheit (siehe Crossmodale Integration)
In ausgeschlafenem, wachen Zustand üben (siehe: Schlaf - oder warum er für den musikalischen Erfolg unverzichtbar ist)
In reizarmer Umgebung mit wenig Potential zur Ablenkbarkeit durch visuelle, auditive Reize oder andere Störquellen üben.
Genug essen und trinken, denn Unterzuckerung und Dehydration können Gehirnfunktionen, aber insbesondere Aufmerksamkeitsfunktionen besonders drastisch beeinträchtigen. (siehe auch: Superfoods für Musiker:innen)
Quellen:
Duke, R. A., Cash, C. D., & Allen, S. E. (2011). Focus of attention affects performance of motor skills in music. Journal of Research in Music Education, 59(1), 44-55.
Kaufmann, L., Nuerk, H. C., Konrad, K., & Willmes, K. (2007). Kognitive Entwicklungsneuropsychologie. Göttingen: Hogrefe.
Herrmann, M., & Münte, T. F. (2009). Lehrbuch der klinischen Neuropsychologie: Grundlagen, Methoden, Diagnostik, Therapie. W. Sturm (Ed.). Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.
Müsseler, J., & Rieger, M. (Eds.). (2002). Allgemeine Psychologie (p. 404). Berlin: Spektrum Akademischer Verlag.
Zimmermann, P., & Fimm, B. (1992). Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung:(TAP). Psytest.(https://www.psytest.net/de/testbatterien/tap/tests)
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