Gute Vorbereitung und das Beherrschen des Repertoires ist natürlich die Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches Konzert. Doch wie kann man mit psychologischen, körperlichen und sinnlichen Methoden akuten Stress abbauen und negative Gedanken, Unsicherheit oder gar Auftrittsangst bekämpfen?
Stress wird als physiologische Erregung vom vegetativen Nervensystem und die dadurch freigesetzten aktivierenden Hormonen als Anpassungsreaktion auf potentiell bedrohliche Situationen ausgelöst. Man unterscheidet in der psychologischen Forschung auch "Eustress" einen eher positiven Stress wie die Geburt eines Kindes oder eine Hochzeit, von "Distress" z.B. einem Todesfall oder einer lebensbedrohlichen Gefahr.
Die physiologischen Vorgänge bei einer akuten Stressreaktion werden von Adrenalin und Kortisol gesteuert. Adrenalin erhöht Blutdruck, Puls und Muskelspannung, erweiterten Pupillen und Bronchien und hemmt die Verdauung, um den Körper optimal für Kampf oder Flucht vorzubereiten. Leider soll man ja in der Regel auf der Bühne weder kämpfen, noch vor ihr oder dem Publikum flüchten. Kortisol wirkt vor allem auf den Fettstoffwechsel um kurzfristig Energie bereitzustellen und hemmt die Immunreaktion. Aus diesen Gründen kommt es bei Dauerstress häufig zu chronisch erhöhtem Blutdruck, Stoffwechselstörungen und Infektanfälligkeit.
[Siehe auch: Stress bei Musikern - Mechanismen, Anzeichen & Bewältigungsstrategien & Entspannung vor Konzerten]
Kommt Angst (lat. angustia = die Enge) als kognitiv-emotionale Stresskomponente hinzu können weitere Symptome entstehen z.B. das Gefühl von Unwirklichkeit oder Kontrollverlust, Wahrnehmungs- und Konzentrationsstörungen, erhöhte Muskelspannung und starke innere Unruhe. Der individuelle Umgang mit akutem und chronischem Stress ist dabei sehr individuell. Wie stressig ein öffentlicher Auftritt empfunden wird und ob und welche körperlichen und psychischen Merkmale auftreten ist sowohl durch die Veranlagung bedingt, als auch besonders von Erfahrung (sogenannter Desensibilisierung durch wiederholtes Aufsuchen der stressenden Situation), der kognitiven Bewertung und den vorhandenen Bewältigungsstrategien abhängig. Manche Menschen reagieren zudem einfach physiologisch schneller auf Stressreize und zeigen sehr schnell und sehr starke physiologische Symptome. Etwa 5-20% der Menschen sind hochsensibel und unter Musiker:innen finden sich naturgemäß besonders viele hochsensible Persönlichkeiten.
Welche Sofortmaßnahmen gibt es also, um die physiologischen und psychischen Symptome von akutem Stress oder Auftrittsangst wirksam und schnell zu lindern?
Psychologische Affirmationen, die sofort wirken
Darum, wie man mit Gedanken bewusst und positiv steuern kann, soll es in einem anderen Beitrag gehen, doch kurze, prägnante Sätze können bereits akut und schnell wirken, wenn man sie überzeugt sagt oder denkt. Besonders gut wirken die folgenden Sätze, wenn man sie regelmäßig anwendet, dabei häufig wiederholt und wenn möglich sogar mit körperlichen und sinnlichen Methoden (s. unten) kombiniert.
"Der Weg ist das Ziel! Es ist nur ein Auftritt von vielen, danach gibt es wieder eine neue Chance!"
"Kein Mensch ist perfekt und ich muss es auch nicht sein! Ich gebe mein Bestes und das ist genug!"
"Ich kann das! Ich bin gut vorbereitet!"
"Ich bin ____ Jahre alt und habe schon viel erlebt!/viel zu erzählen!"
"Hört mal alle her, was ich zu erzählen habe"/"Ich möchte durch meine Musik bewegen, nicht beeindrucken!"
Körperliche Sofortmaßnahmen gegen Auftrittsangst
Körper & Raum: z.B. "Power-Posing", d.h. die Hände in die Hüften stemmen, sich breitbeinig hinstellen und möglichst groß machen (am Besten vor dem Spiegel); oder große, schwungvolle Bewegungen mit Armen und Beinen machen und sich so viel Raum für Körperbewegungen nehmen, wie möglich; Auf der Bühne: Unruhe in kontrollierte, einnehmende Bewegung umsetzen.
Enge erzeugt Angst (lat. angustia = die Enge), weite gibt ein Gefühl von Präsenz, Souveränität. Meistens tendiert man bei Unsicherheit und Angst eher dazu, Bewegungen zu verkleinern anstatt zu vergrößern.
Mimik: bewusst positive Mimik (Lachen, Wohlwollen, Liebe, sanfte Gesichtsausdrücke usw.) aktiv herstellen.
Der amerikanische Philosoph William James und der dänische Psychologe Karl Lange stellten Anfang des 20. Jhdt. die These auf, dass allen vom Gehirn empfundenen Emotionen körperliche Veränderungen, wie z.B. erhöhter Puls, vorausgehen. Eine andere Theorie besagt, dass bereits die physiologischen Reaktionen gleichzeitig wie das emotionale Erleben durch tiefere Strukturen im Gehirn (das limbische System) ausgelöst werden. In jedem Fall sind physiologische Empfindungen stark mit Emotionen verbunden und können sich gegenseitig beeinflussen. Schon einen Stift zwischen die Zähne zu nehmen hebt daher die Stimmung - man kann gar nicht anders als Lächeln und das Gehirn registriert dieses Signal und ordnet es entsprechend ein.
Bewegung & Lockerung: mäßiger Sport, Treppensteigen, Hüpfen oder Tanzen, den Körper ausschütteln.
Das Stresshormon Adrenalin unterdrückt generell eher Körperempfindungen (wie z.B. Schmerzen) und auch erhöhte Muskelspannung "hebt" den Körper quasi vom Boden ab. Bewegung und Sport, auch kurzfristiges Treppensteigen kurz vor dem Auftritt, bringen den Puls physiologisch bedingt hoch und bauen über die Muskelaktivität Stress ab. Außerdem wirkt die Bewegung krampfhafter Muskelanspannung, die man oft gar nicht bemerkt, entgegen und hilft, den Körper wieder besser wahrzunehmen.
Atemübungen: z.B. die Blockatmung in vier 4/4 Takten: 4 Schläge gleichmässig Einatmen, 4 Schläge Anhalten, 4 Schläge gleichmäßig Ausatmen, 4 Schläge Anhalten (und mehrfach wiederholen). Dabei kann man sich auch vorstellen, wie man ein Quadrat nachzeichnet, wobei jede Kante einen Takt darstellt, oder die Schläge imaginieren.
Diese Maßnahme wirkt sehr schnell und reguliert über die bewusste, tiefe, geführte Atmung das Nervensystem nicht nur psychisch, sondern auch physiologisch.
Muskel-An- und Entspannung: Einzelne Muskelpartien bewusst anspannen und danach bewusst wieder loslassen und die Schwere spüren. z.B. Hände zur Faust ballen und loslassen, Schulter hochziehen und fallen lassen etc. Diese Übung funktioniert im Liegen am besten, da man so am besten loslassen kann.
Abwechselndes An- und Entspannen hilft, ein Gefühl für den Muskeltones zu bekommen, und die Muskeln im Vergleich aktiv entspannen zu können. Dies ist das Grundprinzip der progressiven Muskelrelaxation, einer Entspannungstechnik nach Jacobsen.
Siehe hier für eine geführte Entspannungsübung mit Elementen aus Autogenem Training, Muskelentspannung, Atemübungen und psychologischen Affirmationen
Wahrnehmungsübungen
Den Raum wahrnehmen: Größe spüren, Resonanz hören, Weite sehen;
Enge erzeugt Angst (lat. angustia = die Enge), weite gibt ein Gefühl von Präsenz, Souveränität. Meistens tendiert man bei Unsicherheit und Angst eher dazu, Bewegungen zu verkleinern anstatt zu vergrößern.
Zeit nehmen - der/die Gelassene hat Zeit: Alles betont langsam durchführen und die Langsamkeit spüren. Langsam umziehen, langsam gehen, langsam trinken/essen, langsam die Bühne betreten etc.
Adrenalin und andere Stresshormone neigen dazu, Bewegungen und Wahrnehmung zu beschleunigen.
Sich einen oder mehrere Menschen Im Publikum vorstellen, die man mit der Musik bewegen will.
Dadurch versetzt man sich selbst in eine Kommunikations- und Interaktionshaltung und reduziert das Gefühl von Isolation, das typisch für Angstsituationen ist und natürlicherweise zum solistischen Auftreten gehört.
Ein Gefühl der Leere statt der Kontrolle herstellen:
Stress und Angst sollen den Körper in Alarmbereitschaft setzen und lösen das Bedürfnis aus, die Situation kontrollieren zu wollen. Der Versuch der Kontrolle von automatisierten Bewegungen wie musikalischen Abläufen ist jedoch so ziemlich das einzige, was diesen schaden kann. Besser also den Zustand akzeptieren, und sich innere Leere vorstellen. Dies kann man mit Meditation üben.
Resonanz des Instruments und Erdung des Körpers spüren:
Sinnesreize helfen gegen Unwirklichkeitsgefühle und das Gefühl, den Stand oder den Boden zu verlieren. Das Stresshormon Adrenalin unterdrückt generell eher Körperempfindungen (wie z.B. Schmerzen) und auch erhöhte Muskelspannung "hebt" den Körper quasi vom Boden ab. Sinnesreize bewusst wahrnehmen hilft, die Begrenzung und Erdung des Körpers besser zu spüren. Insbesondere Körpertechniken aus der Dispokinesis können hier helfen. Sie sollten am besten bereits beim Üben erlernt werden.
Auftrittsangst - Was sonst noch hilft
auf Koffein & Alkohol verzichten - diese verstärken die Adrenalinwirkung und erhöhen bei manchen Personen den Blutdruck
genug Schlaf oder ein Power Nap - das entspannt; wer zu wenig schläft, ist schneller gestresst
sich von nervösen Kolleg:innen fernhalten
eine warme Dusche/ein warmes Bad - erweitert die Gefäße, senkte den Blutdruck und die Muskelspannung
natürlich entspannende Tees z.B. mit Melisse, Kamille, Lavendel, Hopfen
Gestaltungsspielräume auf der Bühne nutzen z.B. eine Ansage machen, Hilfsmittel mit auf die Bühne nehmen, Varianten der Interpretation nutzen - reduziert das Gefühl von Kontrollverlust
regelemässiges Entspannungstraining z.B. mit dieser Übung
Bei wiederkehrenden oder chronischen Ängsten psychologischen Rat aufsuchen! Von mentalem Coaching kann man nur profitieren. Im Sport ist es sogar die Regel.
Tiere, Stress und Musik
Tiere, besonders Haustiere, sind übrigens besonders stressanfällig, sozusagen "hochsensibel" - wie Musiker:innen. :-) An Silvester verkriechen sich die meisten Katzen unter dem Bett ihrer Besitzer (oder hinter dem Cello) und wenn der Bagger kommt fallen sie auch mal vor Schreck vom Balkon. Paradoxerweise, oder vielleicht gerade deshalb, haben viele Tiere aber eine beruhigende Wirkung auf gestresste Zweibeiner, wie zahlreiche Studien zeigen, und ihre Anwesenheit kann sogar den Blutdruck senken. Eine Untersuchung um Amanda Hampton zeigte 2020 außerdem, dass spezifische für Katzen komponierte Musik das Stresslevel der Tiere reduzieren konnte, während klassische Musik und Stille nicht den selben Effekt hatte.
Quellen & Weiterführende Literatur:
Altenmüller, E., & Klöppel, R. (2015). Die Kunst des Musizierens: von den physiologischen und psychologischen Grundlagen zur Praxis. Schott Music.
Allen, K. M., Blascovich, J., Tomaka, J., & Kelsey, R. M. (1991). Presence of human friends and pet dogs as moderators of autonomic responses to stress in women. Journal of personality and social psychology, 61(4), 582.
Allen, K. (2003). Are pets a healthy pleasure? The influence of pets on blood pressure. Current directions in psychological science, 12(6), 236-239.
Aron, E. N., & Aron, A. (1997). Sensory-processing sensitivity and its relation to introversion and emotionality. Journal of personality and social psychology, 73(2), 345.
Hampton, A., Ford, A., Cox III, R. E., Liu, C. C., & Koh, R. (2020). Effects of music on behavior and physiological stress response of domestic cats in a veterinary clinic. Journal of feline medicine and surgery, 22(2), 122-128.
Mantel, G. (2013). Mut zum Lampenfieber: Mentale Strategien für Musiker zur Bewältigung von Auftritts-und Prüfungsangst. Schott Music.
Meyer, Wulf-Uwe, Achim Schützwohl, and Rainer Reisenzein. Einführung in die Emotionspsychologie/Bände 1-3. 2006.
Selye, H. (1956). What is stress. Metabolism, 5(5), 525-530.
Videolinks:
Entspannungsübung für Musiker:innen - mit Atemübungen, psychologischen Affirmationen und Elementen aus Progressiver Muskelentspannung & autogenem Training
Blockatmung/Box Breathing:
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