Die Expertise-Forschung widmet sich seit Jahrzehnten musikalischen Expert:innen, Schach-Meister:innen und Olympiath:innen. Welche Faktoren entscheiden, ob eine Person auf diesem Gebiet Amateur:in bleibt, professionelle Expert:in wird oder Weltklasse erreicht? Welche Rolle spielen die Art und die Menge des Übens und welchen Einfluss haben kognitive und mentale Faktoren?
Im Grundschulalter, so mit etwa 7-8 Jahren, bekam ich ein Schach-Computerspiel geschenkt. Ich spielte das Computerspiel mit Faszination noch in den ersten Tagen komplett durch und es dauerte nicht lange bis mich Schach in seinen Bann zog. Dabei blieb es jedoch. Wäre ungefähr im selbem Alter nicht das Klavier in mein Leben getreten, hätte ich möglicherweise langfristig mehr Zeit hinein gesteckt.
Auch auf Weltklasse-Niveau gibt es zahlreiche anekdotische Berichte über diese geteilte Liebe. Der russische Komponist Dimitri Schostakowitsch sagte "Dem Schach gehört meine große Liebe. Es vereint in sich Kunst und Wissenschaft." und Robert Schumann drückte es analytisch aus: "Es ist mit der Musik wie mit dem Schachspiel. Die Königin (Melodie) hat die höchste Gewalt, aber den Ausschlag gibt immer der König (Harmonie)." Sergei Prokofjew, David Oistrach und Charles Mingus sollen gute Schachspieler gewesen sein und Arnold Schönberg erfand Spielvarianten für Schach, die in einer Ausstellung über Schach und Musik 2022 in Ebersberg bei München zu entdecken waren - das "Koalitionsschach". Die Spielfiguren von Arnold Schönberg sind optisch sehr durch den Einfluss des 1. Weltkrieges geprägt (Kanonen, Panzer und U-Boote) und auch die erweiterten Regeln nehmen darauf Bezug. So gibt es bei Arnold Schönbergs Variante 4 "Mächte", die in 2er Teams gegeneinander antreten.
Mentale Leistungen - Im Kopf von Expert:innen
"In a general way the memory of chess experts is like the memory of the great musicians. Just the same as a great pianist, for instance, can sit down and play for hours without looking at the score of any of the works he play, a chess master can go through endless games and variations which he has unconsciously stored in his mind. The great musicians see the notes in their minds' eyes as though they were in front of them. In just the same way the chess master sees the moves and positions. " (J.R. Capablanca, "Chess")
Tatsächlich haben Wissenschaftler:innen versucht herauszufinden, wie Weltklasse Expert:innen z.B. Im Schach verglichen mit Amateuren denken. Welche Gedankenprozesse sind entscheidend dafür, dass jene bessere Zugentscheidungen treffen oder effizienter, flüssiger und korrekter die Komposition in Musik umsetzen können? Adriaan de Groot hat bereits 1979 mithilfe von Interviewtechniken Schachspieler:innen befragt. Expert:innen und Amateure bekamen die selbe, anspruchsvolle Spielsituation vorgesetzt und sollten laut ihre Gedankenprozesse mitteilen, bis sie sich zu einem Zug entschieden. Dabei stellte er 2 entscheidende Unterschiede zwischen den Gruppen fest: Die besten Spieler waren zum einen in der Lage, sehr schnell die Spielsituation, also die Struktur und Position der Schachfiguren zu erfassen, und damit zum Beispiel Schwächen des Gegners zu entdecken. Zum anderen waren sie auch deutlich überlegen darin, viele mögliche Züge zu generieren, und dabei die besonders überlegenen Züge zu identifizieren. Andere Studien konnten daraufhin zeigen, dass mehr Erfahrung im Schachspiel mit besserem Vorausdenken und bessere Zugplanung einhergeht, und das hervorragende Schachspieler:innen besonders gut Spielsituationen auch rein mental im Gedächtnis behalten können. In der Tat sind das alles Fähigkeiten, die für das Musizieren wichtig sind. Das Voraushören der Harmonischen und Melodischen Struktur, das Wiedererkennen von Mustern (z.B. Tonleiter oder Akkordmaterial) und das rasche Auswählen von geeigneten Fingersätzen oder Strichen sowie das Memorieren und Überblicken des Stückes in der Performanz sind entscheidend. Je mehr Erfahrung vorhanden ist, desto mehr können diese Denkprozesse durch schon vorhandene Erinnerungen und Mustererkennung des Gehirns erleichtert werden. Begabungen im Bereich der Verarbeitungsgeschwindigkeit, des Arbeitsgedächtnisses und des Vorausdenkens sind grundlegende neuropsychologische Fähigkeiten des Gehirns, die unter anderem mit Intelligenz zusammen hängen, also auch durch die genetische Anlage und die generelle kognitive Kapazität mit-beeinflusst werden. Auch die Wahrnehmungsfähigkeiten bzw. Auffassungsgabe, d.h. die Fähigkeit, sich selbst, Expert:innen und Lehrer:innen genau zu beobachten und zu analysieren, ist bei später erfolgreichen Schach- wie Musik-schüler:innen häufig besonders gut ausgeprägt. Vielleicht erklären diese Ähnlichkeiten der kognitiven Denkprozesse, warum so viele Musiker:innen auch Faszination oder Begabung für Schach haben!
Weltklasse - Begabung oder Deliberate Practice?
Die Frage, wie Einzelpersonen zu Experten in hochkomplexen Aktivitäten wie Schach, Musik oder Wissenschaft werden, hat die Psychologie seit langem fasziniert. Insbesondere ob Weltklasse-Expertise hauptsächlich auf angeborenes Talent oder bewusstes Training zurückzuführen ist, war Gegenstand von Diskussionen. Der englische Begriff "Deliberate Practice" (= Bewusstes Training) bezieht sich auf eine spezifische Art von konzentriertem und zielgerichtetem Training, das dazu führt, dass man über die eigene Komfortzone hinausgeht, Feedback sucht und kontinuierliche Verbesserungen vornimmt. Es beinhaltet das Festlegen konkreter Ziele, das Aufteilen komplexer Fähigkeiten in handhabbare Teile und das Durchführen gezielter Übungseinheiten mit voller Konzentration.
Im Jahr 1993 stellte das Team um Karl Ericsson die Theorie des "Deliberate Practice" auf und begründeten anhand ihrer Studienergebnisse, dass für Expertenleistungen in der Regel etwa 10.000 Stunden unterschiedliche Lernerfahrungen durch freiwilliges Üben oder Beschäftigung mit dem Expertisegebiet, sowie angeleitetes Üben notwendig seien. Selbst auf Weltklasseniveau würden individuelle Unterschiede - abgesehen von körperlichen Einschränkungen - alleine durch die aufgewendete Zeit und Anstrengung erklärt werden. Diese Veröffentlichung, bei der drei Kategorien von Violinisten (Amateure, gute Violinisten und die Besten) retrospektiv befragt wurden, ging daraufhin - wie man heute sagen würde - viral und ist vielen heute als die 10.000 Stunde Regel bekannt. Auch in anderen Expertise-Feldern, wie dem Sport oder eben dem Schach, wurde daraufhin ähnliches gefunden. Die Gruppe um Neil Charness fand dementsprechend, dass der Großteil der Leistungsunterschiede zwischen Schachspielern durch "deliberate practice" erklärt wurde, und dabei der überwiegende Anteil sogar durch das Üben alleine - zum Beispiel das Analysieren von Schachpartien!
Wegen methodischer Unsauberkeiten wurde die Originalstudie von Karl Ericsson jedoch immer wieder kritisiert, bis schließlich 2019 eine andere Arbeitsgruppe minutiös genau versuchte, den Studienaufbau der Studie mit den Violinisten genau nachzubauen, um Ruhe in die Debatte zu bringen. Mit einem erstaunlichen Ergebnis: Die besten Violinisten übten signifikant weniger als die guten Violinisten, wobei beide Gruppen natürlich mehr übten als die Amateure.
Abbildungen 1 und 2 aus Macnamara, B. N., & Maitra, M. (2019). The role of deliberate practice in expert performance: Revisiting Ericsson, Krampe & Tesch-Römer (1993). Royal Society open science, 6(8), 190327.
Üben ist zwar auch in dieser Studie ein zentraler Prädiktor für das Erreichen des Experten-Levels, aber es erklärt nur halb so viel (25% verglichen mit 48%) der Leistungsvarianz, wie in der Studie von 1993 angenommen.
Wahrscheinlich spielen also verschiedene andere Faktoren auch eine Rolle: Hier kommen natürlich wieder die Gene bzw. die Begabung ins Spiel, aber auch motivationale Faktoren, richtiges und gesundes Üben und die Bedeutung von Pausen oder anderen nicht musikalischen Einflüssen auf Gehirn und Lernen müssen berücksichtigt werden.
Mehr zu psychologisch effektivem Üben:
Stay tuned :-)
Wer ist klüger - Katze oder Hund?
Laut der Wissenschaft unterscheidet sich die Intelligenz von Katzen und Hunden vor allem qualitativ, auch wenn zwischen Katzen- und Hundemenschen darüber gerne ein Streit entbricht. Katzen sind besonders gut im unabhängigen, problemlösenden Denken, während Hunde eine höhere soziale Intelligenz aufweisen und man sie daher auch besser trainieren kann. Aus diesem Grund sind bei Hunden die Gehirnareale für soziales Denken stärker ausgeprägt, während Katzen größere Areal haben, die für der Wahrnehmung, Bewegungskoordination und räumliches Gedächtnis zuständig sind.
Smilla ist auf jeden Fall eine kluge Katze, die nicht nur Türen und Schubladen aufmachen kann, sondern auch nach Monaten noch sehr genau weiß, unter welchem Schrank sich welches Spielzeug befindet (von dem ich gar nicht mehr weiß, dass es noch existiert). Auch bei Versteck- und Jagd-Spiele agiert sie sehr geschickt und klug und die Cellistin Jacqueline du Pré konnte sie schon im Alter von 5 Monaten zielsicher erkennen :-) !!!
Weiterführende Links und Quellen:
Altenmüller, E., & Klöppel, R. (2015). Die Kunst des Musizierens: von den physiologischen und psychologischen Grundlagen zur Praxis. Schott Music.
Charness, N., Tuffiash, M., Krampe, R., Reingold, E., & Vasyukova, E. (2005). The role of deliberate practice in chess expertise. Applied Cognitive Psychology, 19(2), 151-165.
Cross, N. (2004). Expertise in design: an overview. Design studies, 25(5), 427-441.
de Groot, A. (1978). Thought and choice and chess. The Hague: Mouton. (Original work published 1946).
Ericsson, K. A. (2006). Protocol analysis and expert thought: Concurrent verbalizations of thinking during experts’ performance on representative tasks. The Cambridge handbook of expertise and expert performance, 223-241.
Ericsson, K. A. (2006). The influence of experience and deliberate practice on the development of superior expert performance. The Cambridge handbook of expertise and expert performance, 38(685-705), 2-2.
Macnamara, B. N., & Maitra, M. (2019). The role of deliberate practice in expert performance: Revisiting Ericsson, Krampe & Tesch-Römer (1993). Royal Society open science, 6(8), 190327.
Miller, S. D., Hubble, M. A., & Chow, D. (2020). Better results: Using deliberate practice to improve therapeutic effectiveness. American Psychological Association.
Sala, G., & Gobet, F. (2017). Does far transfer exist? Negative evidence from chess, music, and working memory training. Current directions in psychological science, 26(6), 515-520.
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