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AutorenbildDr. Teresa Wenhart

Fünf wesentlichen Gehirnnetzwerke für musikalische Kreativität und wie man sie stärkt

Aktualisiert: 7. Mai

Musikalische Kreativität - wie zum Beispiel bei Improvisation und Komposition gefordert - ist eine faszinierende Fähigkeit, die auf komplexe Weise von unserem Gehirn ermöglicht wird. In den letzten Jahren haben Neurowissenschaftler:innen und Psychologen:innen bedeutende Fortschritte dabei gemacht, die neurologischen Grundlagen der musikalischen Kreativität zu verstehen. In diesem Blogartikel werfen wir einen Blick auf sechs entscheidende Gehirnnetzwerke, die mit musikalischer Kreativität in Verbindung stehen, und erkunden, wie man sie aktivieren kann. Das ist insbesondere auch von den Persönlichkeitsanteilen abhängig!



synästhetische Acrylmalerei von Teresa Wenhart, welche den 4. Satz der Cello Sonate des Komponisten Christoph Croisé darstellt

Music in Acrylic: My depiction of the fourth movement of Composer Christoph Croisé's Cello Sonata No. 1.


Wie bei allen Eigenschaften und Tätigkeiten im Leben kommt es nicht so sehr auf die absolute Ausprägung von Fähigkeiten an, sondern auf das relative Verhältnis. Niemand wird auf der Bühne spontan improvisieren können, wenn er oder sie das Instrument nicht beherrscht - auch wenn er noch so viele Ideen hat. Umgekehrt hilft es aber auch nicht dabei, sich spontan kreativ auszudrücken, wenn man zwar Meister:in auf dem Instrument ist, aber die Inspiration für Ideen und Ausdruck fehlt oder man durch übermässiges Grübeln und logisches Planen die musikalischen Handlungen überkontrolliert (Selbstsabotage). Jeder Mensch hat typische Muster - nützliche wie hinderliche - die sich auf Basis von Veranlagung und Umfeld über Jahrzehnte als zunächst sinnvolle Strategie, langfristig aber möglicherweise nicht mehr so hilfreiche Verhaltensweise, ausgebildet haben (siehe auch: Schemaarbeit).


Im Folgenden schauen wir uns zuerst die wichtigsten Netzwerke im Gehirn an, die für musikalische Kreativität wichtig sind und wie man sie aktivieren bzw. stärken kann. Danach folgt ein Abschnitt der individuellen Selbstreflektion: Welche Netzwerke nutzt du schon ausgiebig? Welche vielleicht zu viel und welche benötigen etwas Bemutterung bzw. Beväterung? Und wie hängt das mit deinen Denk- und Verhaltensmustern zusammen? Die Gute Nachricht folgt am Schluss des Artikels :-)


1. Das Default Mode Network (DMN): Die Bühne der freien Assoziation

Das Default Mode Network wird oft mit kreativem Denken und der Generierung von Ideen in Verbindung gebracht Dieses Netzwerk wird aktiv, wenn der Geist in einen ruhigen und entspannten Zustand übergeht, wie es oft bei Tagträumen (z.B. im Zug oder in der Badewanne) der Fall ist (siehe auch: Die inspirierende Kraft der Pausen). In Bezug auf musikalische Kreativität ermöglicht das DMN die freie Assoziation von musikalischen Ideen, das Erkunden neuer Klänge und die Verknüpfung unterschiedlicher musikalischer Konzepte.


Aktivierungstipp: Um das DMN zu aktivieren, ist es hilfreich, Zeit für Entspannung und Meditation einzuplanen. Der bewusste Rückzug von äußeren Reizen kann dazu beitragen, das kreative Denken zu fördern. Beim Musizieren können kurze Phasen des freien Spielens oder Improvisierens, ohne festgelegte Strukturen, das DMN stimulieren und die kreative Entfaltung fördern. Gönne Dir regelmäßige Phasen der mentalen Ruhe. Meditation, Naturerkundungen oder einfach das Zulassen von Gedanken während einer ruhigen Zeit können das DMN aktivieren und so den Nährboden für musikalische Kreativität bereiten. Auch zur Abwechslung in andere Tätigkeiten einzusteigen - wie etwa Lesen, Malen oder Routineaufgaben im Haushalt - können das DMN aktivieren.


2. Das auditive Netzwerk: Decoder von Klängen

Das auditive Netzwerk im Gehirn ist für die Verarbeitung und Analyse von Klängen und musikalischen Informationen verantwortlich. Es umfasst Bereiche wie den auditorischen Kortex und die zugehörigen Strukturen.


Aktivierungstipp: Um das auditive Netzwerk zu aktivieren und musikalische Kreativität zu fördern, ist es wichtig, dem Gehör regelmäßig neue und vielfältige Klänge auszusetzen. Das kann bedeuten, verschiedene Musikgenres zu erkunden, Live-Auftritte zu besuchen oder sogar Naturklänge wie das Rauschen von Blättern im Wind zu hören. Durch diese Vielfalt an auditiven Erfahrungen wird das Gehirn angeregt und inspiriert, neue kreative Wege zu erkunden.


3. Das Salience Network: Der Filter in der Klanglandschaft

Das Salience Network ist für die Aufmerksamkeitsregulation zuständig. Es hilft, relevante Informationen aus der Umgebung herauszufiltern und den Fokus auf das zu lenken, was als wichtig empfunden wird. In Bezug auf musikalische Kreativität kann dieses Netzwerk dazu beitragen, die Aufmerksamkeit auf innovative Klänge oder Rhythmen zu lenken und die Wahrnehmung für kreative Möglichkeiten erweitern.


Aktivierungstipp:  Im Kontext musikalischer Kreativität kann das SN aktiviert werden, indem man bewusst auf musikalische Details und Nuancen achtet. Experimentiere bewusst mit verschiedenen musikalischen Elementen. Variiere Rhythmen, betone unerwartete Noten oder konzentriere dich ganz auf unterschiedlichen Nuancen des Klangs und die emotionale Wirkung der Musik. Dies fordert das Salience- Network heraus und fördert die Kreativität.


4. Das limbische Netzwerk: Das Tor zum Herz der Hörer:innen

Das limbische Netzwerk, auch als emotionales Gehirn bekannt, spielt eine entscheidende Rolle bei der Verarbeitung von Emotionen und der Verknüpfung von emotionalen Erfahrungen mit musikalischen Ausdrucksformen. Es ist daher kein Zufall, dass sich viele Künstler:innen besonders von Personen in Ihrem Umfeld inspirieren lassen. Dieser Einfluss ist im Falle romantischer Anziehung auch als "Muse"-Effekt bekannt und geht auf die Göttinnen der musischen Künste in der griechischen Mythologie zurück.


Aktivierungstipp: Um das limbische Netzwerk zu aktivieren, ist es wichtig, eine emotionale Verbindung zur Musik herzustellen. Das kann durch bewusstes Zuhören, das Erkunden von Musikstücken, die persönliche Bedeutung haben, oder das Musizieren von eigenen emotional geladenen Stücken geschehen. Indem man sich auf die emotionalen Aspekte der Musik konzentriert und die Menschen, die man damit bewegen möchte, kann man das limbische Netzwerk stimulieren und die kreative Ausdrucksfähigkeit steigern. Auch der emotionale Austausch mit und Gefühlsausdruck gegenüber anderen Menschen im Alltag kann dieses Netzwerk stärken.


5. Das Executive Control Network: Die Dirigentenplattform der musikalischen Kreativität

Das Executive Control Network ist für die kognitive Kontrolle, d.h. die Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit, Planung und Entscheidungsfindung, und die Ausführung komplexer Aufgaben verantwortlich.

In der musikalischen Kreativität spielt es eine Schlüsselrolle bei der Organisation von Ideen, dem Experimentieren mit unterschiedlichen Harmonien, Rhythmen und Stilen und der strukturierten Umsetzung komplexer musikalischer Strukturen.


Aktivierungstipp: Um das ECN zu aktivieren, empfiehlt es sich, bewusst neue musikalische Herausforderungen anzunehmen. Das Lernen neuer Instrumente oder das Experimentieren mit ungewohnten Stilen und Genres kann dazu beitragen, das ECN zu stärken und die kreative Denkfähigkeit zu fördern. Das Setzen von Zielen aktiviert das Executive Control Network und fördert die Umsetzung kreativer Ideen. Achte jedoch besonders auf die Balance zwischen dem "dirigierenden" Executive Control Network" und dem frei-assoziativen "loslassendem" Default Mode Network! Diese Balance ist im übrigen auch für entspannte musikalische Performance unter Druck entscheidend (siehe: Choking under Pressure - und was dagegen hilft).



Selbstreflektion - welche Persönlichkeit braucht was?


Jeder Mensch hat verschiedene typische Verhaltensmuster bzw. Persönlichkeitsanteile - nützliche wie hinderliche - die sich auf Basis von biologischer Veranlagung und Umfeld über Jahrzehnte als zunächst sinnvolle Strategie, langfristig aber möglicherweise nicht mehr so hilfreiche Verhaltensweise, ausgebildet haben (siehe auch: Schemaarbeit).


Wir alle kennen Menschen, die vor Ideen nur so sprudeln und sprunghaft oder geradezu impulsiv denken und handeln. Häufig haben diese Menschen eine Veranlagung für erhöhte Reizoffenheit und Assoziativität von Gedanken (siehe auch: Hochsensibilität bei Musikern), die bis hin zu einer diagnostizierbaren Neurodiversität (z.B. ADHS) reichen kann (Persönlichkeitsanteil "Sprudelnde Sandra"). Auf der anderen Seite kennen wir auch Menschen, die überdurchschnittlich verlässlich und organisiert sind, aber vielleicht in manchen Situationen etwas rigide, starr oder perfektionistisch erscheinen (Persönlichkeitsanteil "Planning Paul", er könnte trotzdem auch hochsensibel sein). Sicher ist dir bei der Beschreibung schon klar, wo die jeweiligen Stärken und Schwächen liegen. Die erste Person kann vermutlich sehr gut das DMN und das limbische System nutzen, müsste aber etwas mehr an dem ECN arbeiten. In etwa das umgekehrte Muster ist - vereinfacht gesagt - bei der zweiten Person der Fall.


Neben dem Einfluss von Veranlagung prägen auch frühe Interaktionen mit Bezugspersonen (Eltern, Geschwister, Lehrpersonen, Freunde) situationsabhängige Verhaltensmuster aus.

Eine Person, die früh gelernt hat, dass sie besser keine Gefühle spüren oder äussern sollte, weil diese nicht beachtet oder sogar bestraft werden (Persönlichkeitsanteil "Kalte Katja"), oder sie selbst überfluten (siehe auch: Hochsensibilität bei Musikern), hat möglicherweise gelernt, den emotionalen Ausdruck aus Selbstschutz und zur Beruhigung zu unterdrücken. Für sie wäre es wichtig, diese eigentlich vorhandene Eigenschaft und damit insbesondere das limbische Netzwerk zu Gunsten der Kreativität und des Ausdrucks auf der Bühne wieder mehr und angemessen zu aktivieren.


Personen, denen Bezugspersonen früh oder immer noch alles abnehmen, ihr Leben organisieren (Persönlichkeitsanteil "verwöhnter Viktor") oder ihnen keine altersangemessenen, eigenen Entscheidungen zumuten (Persönlichkeitsanteil "abhängige Anna") haben Schwierigkeiten mit Selbstdisziplin und - organisation. Sie profitieren besonders davon, an ihrem Executive Control Netzwerk zu arbeiten.

Dagegen können Menschen, die früh gelernt haben, dass sie für Erfolge mit Aufmerksamkeit oder Liebe belohnt werden (Persönlichkeitsanteil "Bravo-Berta") oder entsprechend mit Perfektionismus und unerbitterlichen Ansprüchen nach Beachtung und Bewunderung streben (Persönlichkeitsanteil "perfekter Peter") zwar durchaus gute Selbstdisziplin (ECN) und Salienz- bzw. auditive Netzwerke besitzen. Sie tun sich jedoch schwer in den Zustand des "Default Mode Netzwerkes" zu kommen, weil sie befürchten, durch Kontrollverlust nicht nur Leistung sondern auch Zuwendung (Bindung, Liebe) zu verlieren. Nicht selten betreiben sie auch mit einem überkritischen inneren Dialog Selbstsabotage. Wenn du denkst, dass du ein wenig von diesen Eigenschaften hast - besonders wenn du dich als hochsensiblen Menschen identifizierst - versuche dich alternativ mehr auf deine feine sensorische Wahrnehmung (Salienz- und auditive Netzwerke) zu konzentrieren und stärke empathisch-emotionale Ausdrucksweise und Beziehung zu Gleichgesinnten (limbisches Netzwerk), anstatt dich übermäßig auf Ziele, Herausforderungen und vermeintliche Normen von "richtig-falsch" zu konzentrieren (Executive Control Network).


Welche Netzwerke nutzt du schon ausgiebig? Welche vielleicht zu viel und welche benötigen etwas Bemutterung bzw. Beväterung?


Gute Nachricht

Falls du jetzt denkst, "Oh Gott, das und jenes bemerke ich bei mir!", oder sogar, "Ich habe das alles!", hier die gute Nachricht: Generell kennen wir alle bestimmte Situationen, in denen wir diese beschriebenen Muster mehr oder weniger zeigen. Und wir alle habe auch dominante Verhaltensmuster - adaptivere und weniger adaptivere, welche zur Zeit ihrer Entstehung alle Sinn hatten. Kinder lernen sehr schnell, welches Ihrer Verhaltensweisen hilfreich sind und sie handeln damit zunächst sehr klug! Als Erwachsene und wenn sich die Situation, die Ziele und/oder die Bezugspersonen ändern, können manche Verhaltensweisen jedoch nicht mehr so passend sein, oder andere sind dadurch zu sehr in den Hintergrund geraten. Diese versteckten Ressourcen wieder hervorzuholen und die verschiedenen Persönlichkeitsanteile auszugleichen ist eine spannende, lebenslange Aufgabe, die sicher auch der musikalischen Kreativität und dem musikalischen Erfolg zugute kommt! (siehe auch: Schemaarbeit)



Quellen und weiterführende Literatur


Default Mode Network (DMN):


  • Buckner, R. L., Andrews-Hanna, J. R., & Schacter, D. L. (2008). The brain's default network: anatomy, function, and relevance to disease. Annals of the New York Academy of Sciences, 1124(1), 1-38.

  • Beaty, R. E., Benedek, M., Silvia, P. J., & Schacter, D. L. (2016). Creative cognition and brain network dynamics. Trends in cognitive sciences, 20(2), 87-95.


Auditives Netzwerk:


  • Zatorre, R. J., & Halpern, A. R. (2005). Mental concerts: musical imagery and auditory cortex. Neuron, 47(1), 9-12.

  • Peretz, I., & Zatorre, R. J. (2005). Brain organization for music processing. Annual review of psychology, 56, 89-114.


Salience Network:


  • Menon, V., & Uddin, L. Q. (2010). Saliency, switching, attention and control: a network model of insula function. Brain Structure and Function, 214(5-6), 655-667.

  • Chang, L. J., Yarkoni, T., Khaw, M. W., & Sanfey, A. G. (2013). Decoding the role of the insula in human cognition: functional parcellation and large-scale reverse inference. Cerebral Cortex, 23(3), 739-749.


Limbisches Netzwerk:


  • Blood, A. J., & Zatorre, R. J. (2001). Intensely pleasurable responses to music correlate with activity in brain regions implicated in reward and emotion. Proceedings of the National Academy of Sciences, 98(20), 11818-11823.

  • Koelsch, S. (2010). Towards a neural basis of music-evoked emotions. Trends in cognitive sciences, 14(3), 131-137.


Executive Control Network (ECN):


  • Duncan, J., & Owen, A. M. (2000). Common regions of the human frontal lobe recruited by diverse cognitive demands. Trends in neurosciences, 23(10), 475-483.

  • Dajani, D. R., & Uddin, L. Q. (2015). Demystifying cognitive flexibility: Implications for clinical and developmental neuroscience. Trends in neurosciences, 38(9), 571-578.

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