Instrumentalspiel auf professionellem Niveau ist nichts anderes als Hochleistungssport. Viele Aspekte des Skispringens sind auf Musik übertragbar. Die vier Phasen des Skisprungs gleichen den Phasen musikalischer Bewegungen. auch mentaler Fokus in Musik und Sport hat Ähnlichkeiten. Strategien aus der Sportpsychologie, die Skispringer:innen anwenden, sind auch für Musiker:innen hilfreich.
Skispringen faszinierte mich schon als Kind! Als Teenager verpasste ich kein Springen der Vierschanzentournee und in manchen Jahren hing ich auch den Rest der Saison regelmässig vor dem Fernseher! Ich träumte sogar davon, Skispringerin zu werden und mit den Männern mitzuspringen. Bis heute steht das Skispringen der Frauen leider sehr im Hintergrund. Gerne bevormunden manche männliche Entscheidungsträger hier sogar das ganze Geschlecht, in dem sie als Begründung angeben, der Sport sei für Frauen zu gefährlich, es könnte ihnen zum Beispiel die Gebärmutter zerfetzen (Quelle: "Langer Anlauf", Süddeutsche Zeitung Magazin (Heft 51/2023)).
Zugegeben wäre ich vermutlich nicht mutig genug für den Sprung von der Schanze. Doch die physikalischen Kräfte und Gesetze des Sports und der mentale Fokus, den es dafür braucht, ziehen mich noch immer in den Bann. Viele Aspekte des Skispringens sind meiner Ansicht nach auf Musik übertragbar: in physiologischer & physikalischer Sicht auf die Instrumentaltechnik, in psychologischer Sicht auf die mentale Vorbereitung und Präsenz auf der Bühne.
Die 4 Phasen des Skisprungs
Das spannende am Skisprung ist, dass es auf diesen einen Moment ankommt! Es gibt keine 90 Minuten Spielzeit wie beim Fussball, in der man noch mehr Gelegenheiten für ein Tor bekommt (vom Nervenkitzel des Elfmeterschiessens mal abgesehen).
Skispringer:innen bereiten sich deshalb schon Stunden vorher nicht nur körperlich, sondern auch mental auf den Sprung vor (siehe "Mentale Stärke & Fokus").
Schon seit etwa 90 Jahren wird in der Sportwissenschaft Skispringen unter physikalischen Bedingungen erforscht. Die erste Publikation über die Biomechanik des Skispringens stammt von dem Schweizer Reinhard Straumann aus dem Jahr 1927.
Sobald ein:e Skispringer:in auf dem Balken der Schanze sitzt kann man den Skisprung grob in 4 Phasen einteilen:
Abbildung aus Elfmark et al., 2022: Graphische Übersicht der verschiedenen Skisprung-Phasen. 1:Anlauf, 2: Absprung, 3: Flug, 3.1: früher Flug, 3.2: stabiler Flug, 3.3: Landeanflug, 4: Landung.
1.) Anlauf: Je nach Länge, Steilheit & Beschaffenheit der Bahn sowie körperlichen Aspekten beschleunigt der Sportler auf etwa 90km am Ende der Schanze.
2.) Absprung: Für den optimalen Absprung ist entscheidend, dass die Skispringer:innen im richtigen Moment, bei richtiger Geschwindigkeit, mit maximaler Kraft im richtigen Winkel abspringen.
3.) Flug: Die Anfangsflughöhe wird massgeblich durch die vorherigen beiden Phasen mitbestimmt. Ausserdem kann Wind zur mehr (Aufwind) oder weniger (Rückenwind) Weite beitragen oder das Flugsystem turbulent aus dem Gleichgewicht bringen. Durch die V-Form der Skier und die Körperhaltung versuchen die Skispringer:innen, die physikalischen Kräfte optimal auszunutzen.
4.) Landung: Die Landung beendet den Sprung und markiert dessen Weite. Neben der Weite zählen beim Skispringen auch Haltungsnoten - quasi die Ästhetik des Sprungs. Die Springer:innen sollten im sogenannten "Telemark" landen, wobei ein Bein rechtwinklig gebeugt und das andere nach hinten geschoben ist. Bei sehr weiten Sprüngen oder schwieriger, instabiler Flugphase landen Springer:innen häufig mit beiden Beinen parallel um nicht zu stürzen.
Das Flugsystem - Metapher des Instrumentalspiels
Instrumentalspiel auf professionellem Niveau ist nichts anderes als Hochleistungssport. Wie beim Skispringen und noch ästhetischeren Sportarten wie Turnen, Eiskunstlauf, Dressurreiten etc. kommt es dabei nicht nur auf (feinmotorische) Technik, Kraft und Geschwindigkeit an, sondern eben auch auf die künstlerische Wirkung der Bewegungen - zum Beispiel auf den Klang. Dabei ist das Zusammenspiel Muskel- und Skelettsystem des Musikers während des Spielens vergleichbar mit dem sogenannten "Flugsystem" des Skispringers.
Mentale Vorstellung und Flugsystem beim Lagenwechsel
Den Lagenwechsel am Streichinstrument mit einem Skisprung zu vergleichen leuchtet sicher jedem ein und viele Lehrer benutzen auch das Wort "Sprung". Ich persönlich finde es immer hilfreich mir zu überlegen, in welcher Phase des Sprungs das System labil ist. Die Grundlage ist, dass ich weiss, wo der Absprung ist (Ausgangston), wohin ich will (Zielton, Sprungweite) und wie ich dort landen will ("Telemark"). Die Anlauf- und die Flugphase sind massgeblich physiologisch und physikalisch beeinflusst. Zahlreiche Einzelbewegungen müssen in korrekter Reihenfolge zusammen wirken, um den Sprung richtig zu realisieren. Diese Bewegung muss das Gehirn lernen und als Bewegungsprogramm speichern. Massgeblich dafür sind - grob gesagt - zwei Arten von Gehirnregionen: das Supplementär-motorische Areal (SMA) ist für die Planung und Vorstellung der Bewegung zuständig. In motorischen Zentren wie dem Kleinhirn und den Basalganglien wird die Bewegung erzeugt. Ein gespeichertes Bewegungsprogramm verknüpft Vorstellung (SMA) mit Ausführung (Kleinhirn, Basalganglien). Nur weil die Bewegung bzw. der Klang richtig vorgestellt wird, heisst es also noch nicht, dass es auch richtig ausgeführt wird. Für das automatisieren des Bewegungsprogrammes sind Wiederholung, Pausen und Schlaf notwendig.
Flugsystem Klangerzeugung
Erst kürzlich habe ich erkannt, dass die Klangerzeugung mit dem Bogen am Cello auch mit den Skisprungphasen vergleichbar ist. Und das gilt vermutlich für die Klangerzeugung an jedem Instrument, denn es macht auch physikalisch Sinn!
Der Anlauf entspricht dabei jenen Bewegungen bevor der Bogen die Saite berührt bzw. beim Bogenwechsel dem vorausgehenden Strich. Hier spielt bereits die "Anlaufgeschwindigkeit" mit all ihren physikalischen Parametern (Winkeln, Armgewicht, etc.) eine Rolle. Es geht darum, an der richtigen Stelle des Bogens und der Saite zur richtigen Zeit den Absprung zu schaffen. Daraus ergibt sich Einschwingphase des Tones, die massgeblich den weiteren Klang vorbestimmt. Ist der Absprung zu flach, zu steil, zu früh oder zu spät kann das nur schwer durch den:die Skispringer:in oder Musiker:in korrigiert werden. Für die anschliessende Flugphase gilt: das Flug- bzw. Klangsystem ist stabil, wenn das Luftpolster unter den Skiern bzw. die Haftreibung zwischen Bogen und Saite bestehen bleibt und nicht abbricht. Deshalb müssen äussere Störfaktoren (Winde oder bei Musik etwa fehlerhafte Armbewegungen, Winkeländerungen etc. oder plötzliche Tempo- oder Dynamikänderungen von Mitspielern) kompensiert oder werden. Die Landung ist schliesslich gelungen, wenn der Ton zum richtigen Zeitpunkt beendet wird und die Ausschwingphase entsprechend der künstlerischen Idee gelingt. Turbulenzen im "Flug" oder zu hohe Flughöhe bzw. Geschwindigkeit führen eventuell dazu, dass der "Telemark" am Cello oder einem anderen Instrument misslingt.
Haltungsnoten - wie visuelle Aspekte die Publikumswirkung beeinflussen
Selbst wenn Ästhetik bei Musik durch den Klang erzeugt werden soll, beeinflusst die visuelle Darbietung massgeblich das Erleben des Publikums. Eine Studie von Tsay (2013) konnte zum Beispiel zeigen, dass erfahrene, professionelle Jury-Mitglieder:innen die Gewinner:innen eines internationalen Klavierwettbewerbs am besten identifizieren konnten, wenn sie nur das Video der Performance ohne Ton sahen (verglichen Ton alleine sowie Video mit Ton).
Siehe auch: Sight over Sound - psychologische Aspekte bei der Beurteilung von musikalischer Performance
Das Ergebnis der Studie ist vergleichbar mit dem Bauchredner Effekt ("McGurk"-Effekt), einer auditorischen Illusion: Menschen nehmen gesprochene Silben anders war, wenn die gesprochene Silbe nicht mit der Lippenbewegung übereinstimmt: wir hören dann eine Mischung aus der gehörten Silbe und der gesehenen Silbe.
Mentaler Fokus in Musik und Sport
Bei der Übertragung der Skispringen im Fernsehen gibt es häufig längere Pausen, wenn zum Beispiel die Winde zu gefährlich zum Springen sind. In diesen Momenten werden häufig Skispringer:innen bei der körperlichen und mentalen Vorbereitung gezeigt. Sie gehen mit ihren Trainer:innen nochmal die Aufnahme des Trainingssprungs durch, machen ein paar Dehn- oder Sprungübungen, oder sitzen mit geschlossenen Augen im Warteraum und führen Atem- oder Entspannungsübungen durch. Mehrere Springer warten auch bereits neben dem Balken auf der Schanze, wenn sie demnächst an der Reihe sind. Dabei dürfen sie Gedanken an frühere Misserfolge, Turbulenzen oder gar Stürze nicht zulassen, um sich nicht selbst zu verunsichern.
Die mentale Vorbereitung im Skispringen spielt eine entscheidende Rolle, um die bestmögliche Leistung auf der Schanze abzurufen. Hier sind einige Strategien aus der Sportpsychologie, die Skispringer:innen anwenden und auch für Musiker:innen hilfreich sein können:
Visualisierung:
Stelle dir vor der Performance so detailliert und positiv wie möglich vor, wie du auf der Bühne spielst, die Musik interpretierst und mit dem Publikum interagierst.
Visualisiere auch mögliche Herausforderungen wie technische Probleme oder Lampenfieber und denke darüber nach, wie du damit umgehen wirst.
Siehe auch: Choking unter Druck und was dagegen hilft sowie Lampenfieber & Auftrittsangst - Körperliche, psychologische und sinnliche Sofortmassnahmen
Positive Selbstgespräche:
Entwickle positive Schlüsselwörter und - sätze, die dir helfen, Selbstvertrauen aufzubauen und negative Gedanken zu verdrängen.
Fokussiere dich auf deine musikalischen Stärken und erfolgreiche Auftritte aus der Vergangenheit.
Siehe auch: Lampenfieber & Auftrittsangst - Körperliche, psychologische und sinnliche Sofortmassnahmen
Atemkontrolle & Entspannungstechniken:
Praktiziere Atemübungen, um deine Atmung zu stabilisieren und Stress abzubauen.
Verbinde bewusste Atmung mit Entspannungstechniken, um in stressigen Momenten ruhig zu bleiben.
Siehe auch: Entspannungsübung vor Konzerten
Zielsetzung und Fokus:
Setze klare und realistische musikalische Ziele für jede Performance. Dies können interpretatorische Ziele oder technische Herausforderungen sein.
Fokussiere dich während des Auftritts auf die gegenwärtige musikalische Aufgabe und vermeide Ablenkungen.
Siehe auch: SMART - psychologisch wirksame Ziele
Emotionale Kontrolle:
Lerne, mit Emotionen wie Lampenfieber oder Unsicherheit umzugehen, indem du Techniken wie Achtsamkeit oder positive Selbstreflexion einsetzt.
Immer wieder kehrende negative Gedanken & Gefühle kann man zum Beispiel als Tier visualisieren, dass man mit dem Lieblingsfressen liebevoll zur Seite "parkt", bis man sich (nach der Performance) wieder darum kümmern kann.
Siehe auch: Positive Psychologie für Musiker:innen
Mentale Widerstandsfähigkeit:
Entwickle die Fähigkeit, Rückschläge zu akzeptieren und dich schnell zu erholen. Analysiere musikalische Herausforderungen objektiv und leite positive Lernerfahrungen daraus ab.
Betrachte den Druck als eine Gelegenheit, deine musikalische Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, anstatt als Belastung.
Siehe auch: Resilienz - Umgang mit Krisen & Rückschlägen
Soziale Unterstützung:
Suche den Austausch mit musikalischen Mentoren oder anderen Musikern, um deine Gedanken und Emotionen zu besprechen.
Eine unterstützende musikalische Umgebung kann dazu beitragen, den Druck zu mindern und das Selbstvertrauen zu stärken.
Siehe auch: Wertschätzung - ein emotionales und musikalisches Grundbedürfnis
Fazit
Ob auf der Schanze oder der Bühne, die Anwendung von mentalen Vorbereitungsstrategien spielt eine entscheidende Rolle für Sportler:innen und Musiker:innen, um ihre Bestleistungen abzurufen und mit Herausforderungen und Rückschlägen umzugehen. Besonders die Vorstellung und Assoziation von musikalischen mit sportlichen Bewegungen kann auch als Lernstrategie bzw. zum mentalen Üben helfen.
Quellen und weiterführende Literatur
Elfmark, O., Ettema, G., Jølstad, P., & Gilgien, M. (2022). Kinematic determination of the aerial phase in ski jumping. Sensors, 22(2), 540.
Rosenblum, L. D., Schmuckler, M. A., & Johnson, J. A. (1997). The McGurk effect in infants. Perception & psychophysics, 59(3), 347-357.
Tsay, C. J. (2013). Sight over sound in the judgment of music performance. Proceedings of the National Academy of Sciences, 110(36), 14580-14585.
"Langer Anlauf", Süddeutsche Zeitung Magazin (Heft 51/2023),https://sz-magazin.sueddeutsche.de/sport/skispringen-frauen-sport-vierschanzentournee-93446?reduced=true
"Flugbahnoptimierung" im Skispringen, TUM Institut für Biomechanik des Sports, https://www.technik-in-bayern.de/mehr-technik/sporttechnologie/flugbahnoptimierung
Straumann, R. (1926). Vom Skiweitsprung und seiner Mechanik (1 Teil). Ski Jahrbuch des Schweizerischen SkiVerbandes, 20, 11–29 (in German).
Straumann, R. (1927). Vom Skiweitsprung und seiner Mechanik (2 Teil). Ski Jahrbuch des Schweizerischen SkiVerbandes, 22, 34–64 (in German).
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