Wie kann man Musikstücke schneller auswendig lernen und mehr Details aus dem Notentext merken? Wie sollte man lernen, um Memory-Slips sicher vorzubeugen? Welche Rolle spielen Emotionen beim Lernen? Eine zentrale Rolle (nicht nur) für musikalisches Gedächtnis spielen die zwei Seepferdchen in unserem Gehirn.
Während meines Psychologie-Studiums arbeitete ich in einer ambulanten Rehabilitationseinrichtung für Menschen mit neurologischen Erkrankungen, wie z.B. nach einem Schlaganfall oder einer Schädel-Hirn-Verletzung durch Operation oder Verkehrsunfall. In der Abteilung der Neuropsychologie habe ich über drei Jahre solche Patient:innen mit kognitiven Tests untersucht und Trainings-Gruppen geleitet, in denen die Patient:innen je nach ihrer individuellen Schwächen eingeteilt wurden: Aufmerksamkeitstraining, Problemlösungs- oder Wahrnehmungstraining oder eben die Gedächtnis-Gruppe.
Manche Patient:innen habe ich auch individuelle trainiert.
Generell gibt es beim Gedächtnis zwei grundsätzliche Schwierigkeiten: das Einspeichern der Informationen und das Abrufen. Erst durch solche Patient:innen nach Gehirnschädigung hat die neuropsychologische Forschung herausgefunden, wie Gedächtnis im Gehirn funktioniert. Beides kann unabhängig voneinander gestört werden. Deshalb können sich manche Menschen mit Demenz zum Beispiel noch an früher gelerntes erinnern, aber keine neuen Informationen mehr einspeichern. Bei anderen Erkrankungen ist es umgekehrt.
Bibliothek und Bibliothekar - wie funktioniert Gedächtnis?
Alles, was wir im Laufe unseres Lebens - und das beginnt schon sehr früh - lernen speichert das Gehirn in Schemata ab. Das bedeutet, neue Informationen werden mit schon Bekanntem verglichen und relativ dazu abgespeichert. Zum Beispiel lernt ein Kind, dass bereits eine Banane kennt, dass ein Apfel ebenfalls essbar ist und zur Kategorie "Obst" gehört, aber eine andere Farbe hat und anders schmeckt. Vielleicht wird es in der Küche auch anders gelagert oder Mama mag Äpfel, Papa mag lieber Bananen.
All diese Informationen werden im Grosshirn, dem Kortex, abgespeichert. Das ist der jüngste Teil des Gehirns, der beim Menschen relativ zu den anderen, älteren und primitiveren Gehirnteilen am grössten ist. Hier findet das bewusste Denken statt.
Die Bibliothek des Gedächtnisses
Im Kortex gibt es allerdings kein "Gedächtniszentrum" in dem der Apfel abgespeichert ist oder eine Nervenzelle, die dafür verantwortlich ist. Informationen über "Apfel" werden in weit verteilten Netzwerken im Gehirn gespeichert - je nach dem, welche Informationen vorhanden sind z.B. im Farbzentrum, im Hörzentrum, Tastzentrum im Emotionszentrum und so weiter. Der Kortex ist in diesem Sinn wie eine Bibliothek mit Stockwerken, Gängen, Registern und Sortierung. Im Hörzentrum liegen beispielsweise benachbarte Töne nebeneinander ("Tonotopie") und im Tastzentrum sind angrenzende Körperteile benachbart. Man braucht ein System oder eine Hilfe, um die Informationen zusammensuchen und abrufen zu könnten.
Illustration der Gehirnregionen (von NIH Image Gallery): Amygdala, Hippocampus,
Präfrontaler Kortex (vorderer Teil des Kortex/Grosshirns)*
Das Seepferdchen als Bibliothekar
So ein System ist der Hippocampus. Der Name kommt von dem lateinischen Wort für "Seepferdchen", da die Struktur im Gehirn aussieht wie ein Seepferdchen. Wir haben in jeder Gehirnhälfte ein Seepferdchen. Sie gehören zum älteren Teil des Gehirns, genauer dem limbischen System, in dem (in anderen Strukturen) auch Emotionen und Teile von Bewegungsprogrammen verarbeitet werden. Im Gegensatz zum Kortex arbeiten diese Gehirnregionen unbewusst Wir können sie nur durch den Kortex (die Schemata) und langfristig durch unsere Bewertungen indirekt beeinflussen.
Sinnesreize gelangen zum Beispiel von unseren Augen und Ohren direkt in das limbische System, ohne den Umweg über den Kortex zu nehmen. Dort registriert das Seepferdchen die Informationen, gleicht sie mit den Karteien ab, und findet dann heraus, ob es zu diesen Merkmalen ein Schema gibt, das dazu passt (z.B. "Apfel"). Es aktiviert dann die einzelnen Informationen im Kortex, die zum "Apfel" gehören.
Prof. Laszlo Seress' anatomische Präparation eines menschlichen Hippocampus neben einem Seepferdchen. (1980) **
Neue Informationen abspeichern
Wenn es kein passendes Schema gibt, findet das Seepferdchen vielleicht eine Karteikarte mit ähnlichen Merkmalen, die z.B. zu "Banane" gehören und ruft dieses auf. Wir können so im Kortex bewusst die Abweichung registrierten. Das Gehirn liebt Abweichungen, denn sie helfen, Neues und potentiell Gefährliches zu erkennen. Die Banane hat eine andere Farbe, schmeckt aber auch anders. Wenn genügend unterschiedliche Informationen vorhanden sind und als wichtig erkannt werden (z.B. über Wiederholung), legt das Seepferdchen eine neue Kategorie oder Unterkategorie an.
Musikalisches Gedächtnis - neuropsychologische Tipps
Beim Musizieren geht es natürlich nicht um Äpfel und Birnen, aber die Art und Weise der Abspeicherung und des Abrufs der Informationen unterscheidet sich nicht wesentlich. Jedoch gibt es zusätzliche Aspekte, die als Hilfen dienen können oder die Musiker:innen berücksichtigen sollten. Hier ist eine Auswahl der wichtigsten Strategien:
Verarbeitungs-Einheiten ("Chunks"):
Das menschliche Arbeitsgedächtnis kann im Durchschnitt 7 Informationseinheiten gleichzeitig behalten. Das können z.B. 7 Töne sein, oder weniger Töne plus zusätzliche Informationen (Dynamik, Klangfarbe, Rhythmus) die noch nicht im Langzeitgedächtnis sind. Durch bewusstes Einprägen (Strategien) und Wiederholung solcher "Chunks" können diese Informationen im Langzeitgedächtnis verankert werden. Wenn bereits Informationen bekannt sind, z.B. 3 Töne einen typischen Akkord ergeben, kann dies die Aufnahme erleichtern, da die 3 Töne bereits als eine Einheit ("Chunk") verarbeitet werden können. Selbst mit dem längeren Lernprozess an einem Stück können grössere Abschnitte mit erlernten neuen "Chunks" so zu umfassenderen Phrasen erfasst und als ganzes abgespeichert werden.
Möglichst viele Sinneskanäle nutzen:
Damit das Seepferdchen die Informationen zu einer musikalischen Phrase oder einem Chunk richtig abrufen kann, muss es die Aspekte im Kortex abspeichern. Das gelingt besonders gut, wenn die Informationen jeweils über verschiedene Kanäle aufgenommen und abgespeichert werden, z.B. das Gehör, das Körpergefühl (Hand, Arm etc.), den Verstand (Fingersatz, Notennamen), die vermittelte Emotion oder Story. Dadurch werden mehr Gehirnregionen beteiligt. Schon eine Information zu erinnern reicht dann aus, damit das Seepferdchen die anderen Informationen, die damit verbunden sind, findet.
Anker:
Das Seepferdchen benötigt einen Auftrag, die Informationen zur gewünschten musikalischen Phrase zur richtigen Zeit abzurufen. In der Regel üben wir einen Teil davon automatisch ein, da in einem Musikstück eine Note früher oder später auf eine andere folgt. Die vorherige ist also das Abruf-Signal für die nächste. Es kann deshalb hilfreich sein, Übergänge zwischen Chunks, die man einzeln geübt hat, bewusst einzuüben. Sonst sind die Verbindungen innerhalb der Chunks sicherer als dazwischen. Auch grössere Phrasen, die bei Wiederholung unterschiedlich weiter führen, brauchen zusätzliche, unterschiedliche Anker verschiedener Sinneskanäle (z.B. Emotionen, Story, Kognition, andere musikalische Parameter etc.). Das Seepferdchen läuft sonst in der Bibliothek des Kortex zum falschen Regal oder kann sich nicht entscheiden, zu welchem es laufen soll.
Primacy & Regency Effekt:
Wenn ich dir eine Liste mit 20 Worten einmal vorlese, wirst du vermutlich nicht alle Wörter beim ersten Mal richtig wiedergeben können. Dies ist ein Standard-Test, den ich häufig mit neurologischen Patient:innen durchgeführt habe. Nach mehreren Lerndurchgängen beherrscht man wie beim Vokabel-Lernen immer mehr Inhalte. Ein in der Forschung bekannter Effekt ist, dass Menschen sich die ersten und letzten Inhalte einer Reihe viel leichter merken können, als jene in der Mitte. Auch bei Musik passiert das häufig, Anfang und Ende eines Stückes oder einer Phrase kann man meistens besser erinnern. Das Üben in Chunks verschiedener Grösse ist deshalb besonders wichtig für das sichere Lernen.
Pausen, Schlaf & Zeit:
Beim Lernen werden anfangs sehr viele Nervenzellen und Nervenzell-Gruppen im Gehirn aktiv. Im Verlauf des Prozesses, wenn Lernen erfolgreich stattfindet, wird die Aufgabe im Gehirn effizienter gelöst und es werden insgesamt weniger Zellen involviert. Natürlich werden auch neue Verbindungen geknüpft. Komplett neue Nervenzellen können im Gehirn im nur in zwei Regionen neu gebildet werden: dem Riechkolben in der Nase, und den Hippocampi - den Seepferdchen! Das ist eine gute und eine schlechte Nachricht, denn unter dem Stresshormon Cortisol sterben insbesondere in den Seepferdchen Nervenzellen ab und die Neubildung ist verlangsamt.
Deshalb, und auch, weil das Optimieren der Aktivität im Kortex Energie und Zeit braucht sind Pausen und Schlaf unerlässlich für den erfolgreichen Lernprozess. Forschungen konnten zeigen, dass im Schlaf insbesondere Wissensinhalte (deklaratives Gedächtnis) eingespeichert werden (siehe auch: Schlaf - oder warum er für den musikalischen Erfolg unerlässlich ist). Auch Pausen und gute Ernährung sind für den Lernerfolg wichtig (siehe auch: Break your Brain - die inspirierende Kraft von Pausen und Superfood für Musiker:innen).
Emotionen & Gedächtnis: Fluch und Segen
Verstärkter Lerneffekt mit Emotionen:
Jeder kennt diesen Effekt. Ein Stück das wir lieben, können wir schon nach kurzer Zeit auswendig. Die Worte einer guten Freundin, die uns wichtig ist, bleiben uns ewig wörtlich im Gedächtnis, während wir diejenigen einer anderen Person schon nach 5 Minuten vergessen haben. Wer sich für Musik interessiert, kann buchstäblich eine Bibliothek an Informationen über Werke, Komponist:innen und Interpret:innen abspeichern, aber Schwierigkeiten haben, sich mehr als die Farbe eines Autos zu merken. Während motorisches Lernen hauptsächlich über Wiederholung (Try & Error) erlernt wird, werden deklarative Informationen ("Wissen") stark von Willen und Emotionen beeinflusst. Emotionen verstärken die sogenannte "Salienz" von Informationen: sie werden dadurch merk-würdiger. Das ist nur allzu verständlich, wenn man bedenkt, dass das Seepferdchen unmittelbar neben der Amygdala, dem Emotionszentrum, liegt und es entwicklungsgeschichtlich sehr hilfreich ist, wenn wir Gefahren schon nach dem ersten Erleben einspeichern. Auch witzige, ungewöhnliche im wahrsten Sinne des Wortes "merkwürdige" Geschichten können beim Einprägen helfen. Wenn wir wissen, dass die Amygdala auch "Mandelkern" genannt wird, können wir uns eine Geschichte dazu ausdenken, wie glücklich das Seepferdchen beim Mandelessen ist, weil es sich immer am Mandelkern verschluckt und dann laut losprustet. Durch diese Geschichte, die wir sogar leicht bildlich vor Augen haben, fällt es uns leichter uns zu merken, dass Gedächtnis (Seepferdchen) mit Emotionen (Mandelkern) zusammen hängen. Kinder lernen deshalb viel besser und sind vielen Erwachsenen beim Memory-Spiel haushoch überlegen, weil sie Spass an kreativem Spiel haben und sich völlig natürlich kreative, witzige Geschichten ausdenken oder über die Inhalte amüsieren.
Negative Erlebnisse & Stimmungen
Leider hat die Verbindung zwischen Gedächtnis und Emotionen einen ungünstigen Nebeneffekt: unter Umständen werden negative Emotionen - hervorgerufen durch negative Gedanken (z.B. beim Üben), unangemessene Wortwahl von Lehrpersonen oder Kolleg:innen oder Vorkommnisse (z.B. auf der Bühne) - mit eingespeichert und können sich ungünstig auf die Performance auswirken. Sie rufen die Erinnerungen auf der Bühne wieder wach, wenn sie nicht psychologisch sinnvoll mit einer Alternative "überschrieben" werden. (Dazu demnächst mehr! Stay tuned!). Diese Art der Verbindung von Stimmungen findet ausserdem sehr unbewusst statt. Weil direkt neben Seepferdchen und Mandelkern auch motorische Zentren liegen, können sich negative Erinnerungen und akute Gedanken auch direkt negativ auf Bewegungen auswirken - ganz unabhängig ob diese schon eingespeichert sind, oder nicht Siehe auch: Choking unter Druck). Es ist deshalb wichtig, bei Frust und negativen Emotionen lieber eine Pause einzulegen, als die negative Stimmung mit einzuüben.
Ähnlich führt Konditionierung bei Tieren zu Speichelreflex oder Angstreaktionen. Meine Katze hat zum Beispiel sehr schnell gelernt, dass unbekannte Menschen kommen, wenn die Klingel ertönt und reagiert mit Angst. Sie hat auch gelernt, dass es meistens etwas zu Fressen gibt, wenn ich in die Küche gehe, also kommt sie gerne mal mit, wenn ich mich dort aufhalte. Auch den Bettel-Blick gepaart mit
Katzen-Winseln vor der Balkontür kann Smilla erfolgreich einsetzen. :-)
Quellen und weiterführende Literatur
Kaufmann, L., Nuerk, H. C., Konrad, K., & Willmes, K. (2007). Kognitive Entwicklungsneuropsychologie. Göttingen: Hogrefe.
Herrmann, M., & Münte, T. F. (2009). Lehrbuch der klinischen Neuropsychologie: Grundlagen, Methoden, Diagnostik, Therapie. W. Sturm (Ed.). Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.
Müsseler, J., & Rieger, M. (Eds.). (2002). Allgemeine Psychologie (p. 404). Berlin: Spektrum Akademischer Verlag.
Bildquellen:
*National Institute of Mental Health, National Institutes of Health (NIH), Common license, https://www.flickr.com/photos/nihgov/24024310606
**Professor Laszlo Seress, CC BY-SA 1.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/1.0>, via Wikimedia Commons
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