top of page

Die Neuropsychologie von Musik und Sport



Chor und Orchester der Musikakademie der Studienstiftung des deutschen Volkes bei der Aufführung des Fussballoratoriums

Chor und Orchester der Musikakademie der Studienstiftung des deutschen Volkes führten 2019 in der Philharmonie im Gasteig München das "Fussballoratorium" von Moritz Eggert unter dessen Leitung auf. Das Live-Konzert ist bei NEOS erschienen.


[Dieser Beitrag basiert auf Inhalten meines Beitrag zum Programmheft der Aufführung von "Moritz Eggerts Fussballoratorium" in der Münchner Philharmonie 2019]


Musik und Sport scheinen auf den ersten Blick zwei völlig unterschiedliche Welten zu sein: Musik, als ästhetische Betätigung, strebt nach perfekter Bühnenperformance, dient dem Ausdruck von Gefühlen und dem Erzählen von Geschichten. Sport hingegen ist eine individuelle physische Aktivität, die Gesundheit fördert, Massen im Stadion begeistert und bei internationalen Großereignissen für ein Kräftemessen sorgt.


Sportliche und musikalische Höchstleistungen

Doch bei genauerer Betrachtung fallen Hobby-SportlerInnen und -MusikerInnen Ähnlichkeiten auf: So fällt manchen Sport durch das Hören von Musik leichter – Musik motiviert und aktiviert. Andererseits stoßen MusikerInnen beim Spielen virtuoser Werke an körperliche Grenzen in Bezug auf Geschwindigkeit und Kraft. Zum Beispiel werden bei Schumanns Toccata in C-Dur, Opus 7, circa 24.1 Tastenanschläge pro Sekunde erreicht. Homer W. Smith, der diese Zahl berechnete, schätzt, dass dafür etwa 400–600 muskuläre Einzelbewegungen der Hände, Unterarme und Oberarme gleichzeitig oder in optimaler zeitlicher Abstimmung koordiniert werden müssen. (zitiert nach: Altenmüller, E; Vom Neandertal in die Philharmonie: Warum der Mensch ohne Musik nicht leben kann, 2018; S. 321-324.)


Neuropsychologie von Musik und Sport - Körper & Geist

Auch die mentale Einstellung auf einen sportlichen Wettkampf gleicht der Vorbereitung auf ein Konzert: Von den Stadion- oder KonzertbesucherInnen wird Höchstleistung erwartet, Fehler werden durch Pfiffe im Stadion, die Medien oder Konzertkritiken sofort geahndet. Ist die psychische Verfassung der Sportlerin oder des Musikers stressbedingt nicht stabil genug, resultiert dies häufig in akuten oder chronischen Schmerzen, Auftrittsangst oder einem Phänomen, das in sport- und musikpsychologischer Forschung »choking under pressure« genannt wird. Dieser Begriff bezeichnet den Umstand, dass ein ursprünglich automatisch ablaufender, hoch trainierter Bewegungsablauf – wie das Einlochen beim Golf, der Schuss ins leere Tor oder die Passage auf der Geige – unter psychischem Druck plötzlich nicht mehr ausreichend kontrolliert werden kann und folglich misslingt.

Doch warum ist das so? Das menschliche Gehirn ist eine extrem komplexe und faszinierende Ansammlung von Strukturen. Während in der Großhirnrinde Zentren für Wahrnehmung und die Initiierung einer Bewegung liegen, werden die bewusst langsam geübten Abläufe schließlich als Bewegungsprogramme im Kleinhirn und in den Basalganglien, also in tiefer liegenden Regionen, gespeichert. Emotionen werden in der Regel ebenfalls unbewusst von subkortikalen Strukturen und extrem schnell analysiert (Amygdala). Wer schon einmal das oben beschriebene »choking under pressure« oder Zittern der Hände und der Stimme bei Aufregung erlebt hat, wird eine untrennbare Verbindung von Emotionen und Bewegungen bestätigen können. Auch der musikalische Ausdruck wird unter anderem über die Körpersprache, Mimik und Gestik der Musizierenden vermittelt. Studien konnten zeigen, dass allein das Video des Klavierspiels von PianistInnen ohne Ton ausreicht, um vorherzusagen, wer die Finalrunde des Wettbewerbs gewinnen wird (siehe auch: Sight over Sound bei der Beurteilung musikalischer Performance). Spätestens durch die Entdeckung der Spiegelneuronen, die nicht nur feuern, wenn man selbst sich bewegt, sondern ebenso, wenn man dieselbe Bewegung nur beobachtet, wissen wir außerdem, dass auch Wahrnehmung vermutlich nicht von Bewegung trennbar ist. Manche WissenschaftlerInnen gehen sogar so weit zu sagen, dass alles im Gehirn in Form von Bewegung repräsentiert ist.


Musik im Stadion

Musik hören und machen ist also abhängig von Bewegung, aber warum gibt es Fangesänge und was haben Fußballfans mit KonzertbesucherInnen gemeinsam? Beginnen wir damit, was einen Fangesang eigentlich charakterisiert. Klaus-Jürgen Höfer kategorisierte 1979 zum ersten Mal musikalische Aktivitäten im Stadion durch die Analyse von Fußballspielen und kam auf vier Kategorien: Primärreaktionen wie Rufe, Pfeifen und Lärminstrumente, rhythmisches Klatschen, Kurzgesänge und Lieder. Dabei überschneidet sich das Kernrepertoire in der Regel zwischen den Klubs. Ein bekanntes Phänomen ist das »Zersingen« von bekannten Songs mit neuem Text z. B. »Olé, olé, olé, olé« auf die Melodie von »Yellow Submarine« (Beatles). Der berühmte Musikpsychologe und FANomenologe Reinhard Kopiez - Musikpsychologie Professor an der HMTM Hannover - stellte schon 1998 fest, dass Fangesänge keineswegs dem »dumpfen und bierseligen Fan, der sein Fußballerlebnis lediglich konsumiert« entstammen, sondern vielmehr Ausdruck der Teilnahme und Einflussnahme auf den Sport sind. Dabei entstammen die Lieder aus dem gesamten Repertoire der Musik, von Unterhaltungsmusik bis Oper (Trompetenthema aus dem Triumphmarsch von Aida, wie hörbar im "Fußballoratorium" des zeitgenössischen Münchner Komponisten und Professors Moritz Eggert).


Musik als soziales Bindemittel

Bei der Frage, wie die Musik ins Stadion kommt, sind wir sehr schnell bei dem Problem, weshalb wir Menschen überhaupt Musik haben. Musik schafft keinen offensichtlichen Überlebensvorteil, im Gegensatz zu z.B. der Entwicklung von Sprache oder von problemlösendem Denken. Die Theorie des sozialen Gehirns erklärt die evolutionäre Weiterentwicklung des menschlichen Gehirns gegenüber der Tierwelt durch die zunehmende Komplexität sozialer Netzwerke, sozialer Kommunikation und sozialer Interaktionen (siehe auch: Musikalische Anziehung - oder welche Musik steigert die Attraktivität). Das Zusammenleben in großen Gruppen im privaten und öffentlichen Bereich erfordert ein extremes Maß an Gedächtnis- und Wahrnehmungsleistungen. Gleichzeitig ist der soziale Verband für Menschen überlebenswichtig: Wir können nicht fliegen, nicht besonders schnell laufen oder schwimmen und brauchen die Zusammenarbeit und Arbeitsteilung mit anderen. Und hier kommt die Musik ins Spiel, wie der Musikermediziner und Flötist Eckart Altenmüller - Professor Emeritus des Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin der HMTM Hannover - in seinem Sachbuch »Vom Neandertal in die Philharmonie« zusammenfasst. Studien konnten zum Beispiel zeigen, dass Kinder nach einer musikalischen Interaktion mehr Kooperationsverhalten zeigen, als nach einer nicht-musikalischen Gruppenaktivität. Interessanterweise sind die oben angesprochenen Gehirnregionen der Spiegelneuronen auch wichtige soziale Regionen des Gehirns. Ein großes und gepflegtes soziales Netzwerk ist außerdem der beste Prädiktor für geistige Gesundheit im Alter. Kurz: das Gehirn ist ein soziales Gehirn und der Mensch ist im Wesentlichen ein Gruppentier.



wissenschaftliche Grafik zum Enzephalisationsquotienten

Zusammenhang zwischen evolutionärer Entwicklung des Gehirns und der Zunahme der Größe sozialer Gruppen als einer von vielen Belegen für die Theorie des sozialen Gehirns: Je größer die sozialen Verbände sind, desto großer ist auch das Volumen der Großhirnrinde im Verhältnis zu »primitiveren« Regionen des Gehirns. Modifiziert nach Dunbar, 2014.


Daraus ergibt sich der evolutionäre Vorteil von Musik generell und der Nutzen von Musik im Stadion: Musik schafft Verbindung innerhalb und zwischen Gruppen, schafft Identität und ein Gemeinschaftsgefühl. Durch das Mitfiebern mit einem Fußballverein entsteht genauso ein »Ingroup« versus »Outgroup«-Verhältnis, wie durch ähnlichen Musikgeschmack (Klassikliebhaber in der Philharmonie) oder das Praktizieren in einem Orchester oder Chor. Birgit Stieger konnte erstmals 1983 durch die Analyse von Vereinsliedern nachweisen, dass diese der Vermittlung eines »Wir«-Gefühls dienen, sowie der Abgrenzung von anderen Vereinen. Ein ganz essentieller Bestandteil von Musik, der besonders sozial bindend wirkt, ist natürlich auch der Rhythmus. Rhythmische Synchronisation von Menschen mit Trommeln, Klatschen oder durch Tänze, gehört mit zu den ältesten kulturellen Zeugnissen der Menschheitsgeschichte und findet sich sowohl in traditioneller, wie in klassischer Musik (z. B. Tänze in Barockwerken). Bei allen sozialen Interaktionen, insbesondere Körperkontakten aber auch musikalischen Aktivitäten in der Gruppe wie Chorsingen wird nämlich das Hormon Oxytocin ausgeschüttet, welches bekannt für die Ausbildung der Eltern-Kind-Bindung ist und die Gedächtnisleistung verbessert. Auch dieses trägt zur Bildung eines Gruppengefühls bei. Damit sind wir wieder bei dem Zusammenhang zwischen Bewegung und Musik angelangt und so erklärt sich auch, wie Musik, insbesondere stark rhythmische Musik, zum Beispiel bewegungsstarre Parkinsonpatienten wieder in Bewegung versetzen kann.


Musik kann verbinden, Musik kann aber auch – durch geteilte Meinung über Musikgeschmack und durch Gruppenbildung (in Stadien) – trennen. Es bleibt zu hoffen, dass die Lager der AnhängerInnen von Fangesängen und des oft als privilegiert oder gar elitär empfundenen Musizierens im Konzertsaal sich auf das eigentliche Ziel der Musik oder des Sports besinnen – die Gemeinschaft sowie den individuellen und kollektiven emotionalen Ausdruck. Musik allein wird die Welt nicht retten können.



 

Quellen und weiterführende Literatur:


  • Altenmüller, E. (2018). Vom Neandertal in die Philharmonie: Warum der Mensch ohne Musik nicht leben kann. Springer-Verlag.

  • Dunbar, R. I. (2014). The social brain: Psychological underpinnings and implications for the structure of organizations. Current Directions in Psychological Science, 23(2), 109-114.

  • Kopiez, R., & Brink, G. (1998). Fuβball-Fangesänge. Eine Fanomenologie. Würzburg.

  • Smith HW (1953). From Fish to philosophier, 192-199. Little, Brown and Company Boston.

 
 
 

Comments


bottom of page