In der Welt der Musik, die oft von unvorhersehbaren Herausforderungen und Wettbewerb geprägt ist, spielt Resilienz eine entscheidende Rolle für das persönliche und berufliche Wohlbefinden von professionellen Musiker:innen - und für den Erfolg. Die Entwicklung von Resilienz hängt maßgeblich von spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen, sozialer Unterstützung und kognitiven Faktoren ab, wie die Geschichte meiner Grossmutter zeigt.
Für mich persönlich lässt sich Resilienz in einem Satz zusammenfassen:
"Kein Unglück ist so gross, dass nicht auch ein bisschen Glück dabei ist"
Ich hörte diesen Satz schon seit meiner Kindheit immer wieder von meiner Oma und sie hatte ihn von ihrer Grossmutter gelernt. Meine Oma Elfriede wuchs in Stettin, im heutigen Polen, auf und besuchte ihre Grosseltern regelmässig in Misdroy an der Ostsee, wo diese wohnten. Schon während des zweiten Weltkrieges wurde meine Grossmutter mit der Kinderlandverschickung verlegt und zu körperlicher Schwerstarbeit für deutsche Soldaten gezwungen. Das Ende des Krieges erlebte sie mit ihrer Familie in Misdroy. Sie blieben dort vorerst, obwohl die Rote Armee in Richtung Westen vorrückte. Die Familie wurde beraubt und geplündert. "Die Russen sind auch nur Menschen", sagte meine Oma. Nach ihrem Sieg fallen viele Russen auf dem Weg Richtung Heimat über junge Frauen her. Meine Oma und auch ihre Mutter werden Opfer einer Vergewaltigung:
"Ich hatte wahnsinnige Schmerzen und hab laut geschrien. Ich war noch unberührt, ich war sogar noch ungeküsst. Und dann hat er mich gewürgt, dass mir die ganze Zeit die Zunge aus dem Hals hing. Und als er von mir abgelassen hat und in den Wald lief, habe ich dagesessen, auf einem umgefallenen Baumstamm, und ich konnte es nicht fassen. Das war so friedlich alles, wie im tiefsten Frieden. Der Wald, die Vögel sangen, und der Himmel war so blau und die Sonne schien so schön. Und ich hatte das Gefühl, in mir war alles tot. Als wäre ich nur wie eine Hülle, und innen war gar nichts mehr." (Elfriedes Bericht in "Kriegskinder", S. 226).
Sowohl Elfriede wie auch ihre Mutter haben das Glück, weder schwanger noch geschlechtskrank zu werden. Meine Oma wird von russischen Ärztinnen mitfühlend versorgt und kann mit ihrer eigenen Mutter über den Vorfall sprechen. Kein Unglück ist so gross, dass nicht auch ein bisschen Glück dabei ist, so die Einstellung der Familie. Später übernehmen Polen gewalttätig das Geschäft von Elfriedes Grosseltern. Die ganze Familie wird zuerst versklavt und flieht schliesslich wie Millionen andere im Januar 1946 auf Befehl Polens Richtung Westen. In den harten, kühlen Wintern der Nachkriegszeit wird es nicht leichter.
Zum letzten Mal erlebte ich meine Grossmutter 2019 bevor sie 2020 starb. 23 Jahre lang hatte sie Geschichten aus dem Krieg und von der Flucht erzählt. Von verschimmelten Marmeladenbroten, zurückgelassenen Geigen und schwerster Handarbeit. Bei meinem letzten Besuch erzählte sie von ihrer Vergewaltigung. Darüber zu sprechen nahm sie auch 75 Jahre später noch mit. Sie leugnete nicht, wie schlimm diese Erfahrung und die vielen anderen für sie waren. Und doch hatte sie ihr Leben weiter gelebt, sich eine Existenz aufgebaut, selbst als sie nach dem Suizid meines Grossvaters Alleinerziehende wurde. Selbst ihr letzte Jahr im Pflegeheim verbreitete sie trotz grosser körperlicher Schmerzen und Einschränkungen ihren Optimismus und ihre positive Grundeinstellung und war unter den Mitbewohner:innen und Pfleger:innen gleichsam beliebt.
Zeit ihres Lebens gab meine Oma mir diesen einen Rat: "Ob wir eine Situation mögen oder nicht, hängt nicht alleine von der Lage ab, sondern auch von unserer Einstellung, der Art, wie wir sie sehen. Ich habe mich entschieden, glücklich zu sein. Diese Entscheidung treffe ich jeden Morgen, wenn ich aufwache. Kein Unglück ist so gross, dass nicht auch ein bisschen Glück dabei ist." Ich bewundere diese Einstellung bis heute! Immer wenn ich russische oder polnische Musik höre oder spiele denke ich an meine Oma.
Die Psychologie der Resilienz
Meine Oma Elfriede und auch ihre Grossmutter war ein Parade-Beispiel von Resilienz. Resilienz bezieht sich auf die innere Stärke, die es uns ermöglicht, mit Stress, Druck, Rückschlägen und Lebensveränderungen umzugehen. Es ist die Fähigkeit, sich anzupassen und trotz Widrigkeiten auf positive Weise voranzuschreiten und dadurch letztendlich glücklich und erfolgreich zu leben. Forschugnsergebnisse zeigen, dass Menschen, die eine Haltung wie meine Oma an den Tag leben, können auch die schlimmsten psychischen und körperlichen Belastungen besser überstehen, schneller genesen und langfristig zufriedener, länger, gesünder und erfolgreicher leben.
Glücklicherweise haben die meisten Menschen weitaus geringere Herausforderungen und Krisen zu bewältigen, als Kriegskinder wie meine Grossmutter. Doch auch Rückschläge im Beruf, Trennungen, öffentliche Misserfolge oder geplatzte Träume können Menschen tief erschüttern. Menschen, die resilient sind, neigen dazu, solche Herausforderungen als Chancen zur persönlichen Entwicklung zu sehen. Den Job/Auftrag nicht bekommen ? - der Nächste stellt sich vielleicht sogar als besser passend heraus!, durch das Studium gefallen? - erst dadurch kommt man auf die Idee, eine andere Ausbildung/Weiterbildung zu beginnen!, bisher kein Probespiel bestanden? - vielleicht stellt man später fest, dass man gar nicht fürs Orchester "geboren" ist, sondern sich in einem anderen Umfeld sowieso viel wohler fühlt! Trennung von der langjährigen Freundin? - Unabhängigkeit und Chance, die eigene Persönlichkeit ganz unabhängig zu entwickeln und eine Partnerin zu finden, die noch besser passt!
In der Entwicklung von Resilienz spielen Persönlichkeitsmerkmale, soziale Unterstützung und kognitive Faktoren eine Rolle:
Persönlichkeitsmerkmale:
Optimismus ist für professionelle Musiker von besonderer Bedeutung, da sie oft mit Unsicherheiten in Bezug auf ihre Karriere und künstlerische Anerkennung konfrontiert sind. Ein optimistischer Blick auf Herausforderungen kann dazu beitragen, Rückschläge als vorübergehend und überwindbar zu betrachten. Selbstwirksamkeit, Flexibilität und (emotionale) Selbstregulierung sind ebenfalls entscheidende Persönlichkeitsmerkmale. Die Überzeugung, Einfluss auf die eigene Karriere zu haben, die Fähigkeit zur Anpassung an neue musikalische Entwicklungen und die Kontrolle über emotionale Reaktionen fördern die Widerstandsfähigkeit von Musikern.
Soziale Unterstützung:
Ein starkes soziales Netzwerk ist für Musiker von unschätzbarem Wert. Familie, Kolleg:innen, Freunde und Mentor:innen bieten nicht nur emotionale Unterstützung, sondern auch praktische Hilfe und Orientierung in turbulenten Phasen. Gemeinsame Erfahrungen und ein unterstützendes Umfeld tragen dazu bei, dass Musiker:innen besser mit den Herausforderungen des Musikgeschäfts umgehen können. Ebenso spielt die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen eine Rolle. Empathie, Verständnis und Fürsorglichkeit schaffen ein unterstützendes Umfeld, das die Entwicklung von Resilienz begünstigt.
Kognitive Faktoren:
Musiker müssen nicht nur musikalisch, sondern auch mental flexibel sein. Kognitive Faktoren wie die Fähigkeit, problemorientierte Bewältigungsstrategien anzuwenden, aus Erfahrungen zu lernen und alternative Perspektiven einzunehmen, sind von entscheidender Bedeutung. Das Musikerleben ist geprägt von ständigen Veränderungen. Kognitive Flexibilität ermöglicht es, alternative Sichtweisen einzunehmen und neue Lösungswege zu finden, was wiederum die Widerstandsfähigkeit stärkt.
Positive Psychologie - Das PERMA-Modell
Die positive Psychologie trägt zur Resilienz bei, indem sie positive Emotionen, persönliche Stärken und positive soziale Beziehungen fördert. Indem Menschen lernen, positive Emotionen zu kultivieren, ihre Stärken zu nutzen und unterstützende soziale Netzwerke aufzubauen, können sie ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Stressfaktoren im Leben stärken.
Ein resilientes Individuum könnte beispielsweise lernen, schwierige Situationen als Chancen für persönliches Wachstum zu betrachten, positive Emotionen zu kultivieren, sich auf ihre Stärken zu konzentrieren und soziale Unterstützung zu suchen. In diesem Sinne trägt die positive Psychologie dazu bei, die Faktoren zu stärken, die die Resilienz fördern.
Das PERMA-Modell (Seligman, 2011), definiert fünf zentrale Elemente des Wohlbefindens: Positivität, Engagement, Beziehungen, Sinnhaftigkeit und Erfolge.
Positivität (P): Dieser Aspekt bezieht sich auf die Fähigkeit, positive Emotionen zu erleben und zu kultivieren. Die bewusste Wahrnehmung von Freude, Liebe und Dankbarkeit trägt zum Aufbau von Wohlbefinden bei.
Engagement (E): Es bezieht sich auf die Fähigkeit, in Tätigkeiten aufzugehen, die einem ein tiefes Gefühl von Erfüllung und Freude verschaffen. Das Erleben von Flow, dem Zustand des völligen Aufgehens in einer Aktivität, ist ein Schlüsselelement.
Beziehungen (R): Die Qualität und Tiefe sozialer Verbindungen ist ein weiterer zentraler Aspekt. Starke Beziehungen zu Familie, Freunden und Gemeinschaft (inkl. Kolleg:innen und Konkurrent:innen) tragen wesentlich zu einem erfüllten Leben bei.
Sinnhaftigkeit (M): Die Suche nach Bedeutung und einem höheren Zweck im Leben ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis. Die Identifikation und Verfolgung persönlicher Werte und Ziele spielen hier eine entscheidende Rolle.
Erfolge (A): Das Erreichen von persönlichen Zielen und das Überwinden von Herausforderungen fördern ein Gefühl von Erfolg und stärken das Selbstwertgefühl. Es geht dabei weniger um "objektive", gesellschaftliche Erfolge, diese können sich jedoch durch eine resiliente Haltung einstellen.
Herausforderungen annehmen, Chancen nutzen
Ich habe von meiner Oma gelernt, das positive in allen Herausforderungen des Lebens zu sehen. Zugegeben fällt auch mir das nicht immer leicht - selbst als Psychologin. Oft hilft mir aber in einer akuten Krise, wenn ich auf die letzten Jahre zurückblicke: Viele tolle Chancen, Erlebnisse, Erfolge und Begegnungen hätte ich nicht gehabt, wäre nicht zuvor etwas anderes weniger gut gelaufen. Ohne die Trennung von meinem Ex-Freund wäre ich vermutlich nicht zum Auslandssemester in die Schweiz gekommen (und später wieder hierhin zurück gekehrt). Hätte ich als Kind schon Cello gelernt, hätte ich viele Begegnungen als Erwachsene nicht gemacht, die ich nicht missen möchte. Hätten mich nicht einige Cello-Lehrer:innen abgelehnt, wäre ich nicht bei jenen gelandet, die es wirklich gut mit mir meinen. Diese Liste könnte ich ewig weiterführen.
Trotzdem kann und sollte man sich natürlich fragen, welche Herausforderungen man annehmen möchte. Keine Entscheidung oder eine vertagte Entscheidung ist auch eine Entscheidung, die Konsequenzen hat. Und nicht jede Krise kann man alleine mit Optimismus bewältigen. Es braucht auch Mut, Verwänderungswillen und soziale und ggf. professionelle Unterstützung.
Inzwischen machen mich Krisen neugierig: was wohl dahinter auf mich wartet?!
Viel Neugier, Mut und Optimismus wünsche ich dir in 2024! :-)
Quellen und weiterführende Literatur
Seligman, M. (2018). PERMA and the building blocks of well-being. The journal of positive psychology, 13(4), 333-335.
Bierhoff, H. W., Rohmann, E., & Frey, D. (2011). Positive Psychologie: Glück, Prosoziales Verhalten, Verzeihen, Solidarität, Bindung, Freundschaft. Sozialpsychologie–Interaktion und Gruppe, 81-105.
Winterberg, Y., & Winterberg, S. (2013). Kriegskinder: Erinnerungen einer Generation. Rotbuch Verlag.
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