Stress ist eine komplexe neurobiologische Reaktion auf belastende Situationen. Musiker:innen sind besonders von akutem und chronischem Stress bedroht und reagieren zudem häufig besonders sensibel auf Stress. Was sind die Anzeichen von Stress bei Musikern und welche Bewältigungsstrategien sind hilfreich?
Neurobiologische Mechanismen von Stress
Im Gehirn spielt der Hypothalamus eine zentrale Rolle, indem er in Stresssituationen das Hormon CRH (Corticotropin-releasing Hormone) freisetzt. Dieses Hormon aktiviert die Hypophyse, die wiederum Adrenocorticotropes Hormon (ACTH) ausschüttet. ACTH stimuliert die Nebennierenrinde zur Produktion von Stresshormonen wie Cortisol. Cortisol beeinflusst eine Vielzahl von Körperfunktionen, darunter den Stoffwechsel, das Immunsystem und die kognitive Funktion. Unter chronischem Stress kann die übermäßige Ausschüttung von Cortisol schädlich sein und zu Gesundheitsproblemen führen, wie etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen und Angstzuständen. Das limbische System, insbesondere der Mandelkern (Amygdala), spielt in Interaktion mit dem Hippokampus (Gedächtnissystem) und dem präfrontalen Kortex (bewusstes Denken) eine Rolle bei der Bewertung von Stressoren und der Initiierung von Stressreaktionen. Diese können das autonome Nervensystem aktivieren, was zu physiologischen Veränderungen wie erhöhtem Puls und Blutdruck führt. Die individuelle Stressbewältigung hängt von genetischen, umweltbedingten und erlernten bzw. psychischen Faktoren ab. Die Neuroplastizität des Gehirns ermöglicht es jedoch, Stressbewältigungsfähigkeiten durch Training und Strategien wie Achtsamkeit und Stressmanagement zu verbessern (siehe unten).
Psychologische Faktoren & Anfälligkeit für Stress
Die individuelle Stressbewältigung hängt von genetischen, umweltbedingten und erlernten Faktoren ab.
Umweltfaktoren
Manche Berufe wie z.B. in der Musikindustrie, sind klassischerweise mehr von Stress betroffen, als andere. Neben akutem Stress (z.B. vor oder während Konzerten) spielt auch chronischem Stress (z.B. Reise- und Konzerttätigkeit, Leistungsdruck, finanzielle Sorgen und Zukunftsängsten, familiäre und berufliche Konflikte) besonders häufig eine Rolle. In folge dessen ist der Anteil von und das Risiko für Depressionen, Ängsten und Burnout, die eine Folge von Stress sein können, unter Musikschaffenden besonders hoch - insbesondere unter Solist:innen und Stimmführer:innen.
Persönlichkeit & biologische Veranlagung: Hochsensibilität
Hochsensibilität bezeichnet eine angeborene oder erworbene Neigung, sensorische Eindrücke und emotionale Reize intensiver wahrzunehmen und zu verarbeiten als der Durchschnitt. Menschen mit hoher Sensibilität, auch hochsensible Personen (HSP) genannt, können psychisch und körperlich empfindlicher auf Umweltreize reagieren, was Auswirkungen auf ihre Stressanfälligkeit und Körperfunktionen haben kann. Die hohe Sensibilität kann auch dazu führen, dass HSPs Schwierigkeiten haben, Stress abzubauen, da sie eine ausgeprägte Selbstreflexion und eine tiefe emotionale Verarbeitung haben. Das kann zu einer erhöhten Stressanfälligkeit führen, insbesondere wenn sie nicht über effektive Stressbewältigungsstrategien verfügen.
Siehe auch: Hochsensibilität bei Musikern - zwischen künstlerischer Begabung und emotionaler Herausforderung
Erlernte Faktoren
Der Umgang mit Stressoren ist einerseits bereits in der Herkunftsfamilie über Erziehung und Lernen am Modell erlernt worden, kann aber auch später individuell über Erfahrung, Training und Beratung bzw. Coaching verbessert werden. Dazu stehen verschieden Möglichkeiten zur Verfügung (siehe unten.)
Anzeichen und Folgen von Stress bei Musikern
Körperliche Symptome
Erhöhter Puls und Blutdruck, beschleunigte oder verkrampfte Atmung bis hin zu Atemnot, Zittern, Schwindel und allgemeines Unwohlsein, innere Unruhe oder Antriebsschwierigkeiten, Verdauungsprobleme und psychosomatische Probleme sind typische Anzeichen von Stress. Akuter und chronischer Stress kann außerdem zu Ohrgeräuschen, Tinnitus und plötzlich eintretender Schwerhörigkeit (Hörsturz) führen. Sehr häufig führt Stress bei Musiker:innen auch zu Muskel- und Gelenkproblemen beim Instrumentalspiel.
Rumination (Gedankenkarussel)
Rumination ist ein Prozess, bei dem wir immer wieder über stressige, negative Gedanken und Sorgen nachdenken. Der frontale Teil des Gehirns, der für aktives Nachdenken und Problemlösen zuständig ist, ist übermäßig aktiv und stimuliert dadurch auch das limbische System, was die Stressreaktion verstärkt. Wiederholtes Durchgehen von To-Do Listen ohne dabei Massnahmen (wie z.B. Priorisierung) zu ergreifen oder kreisende negative Gedanken und Sorgen (z.B. über bevorstehende Konzerte oder zwischenmenschliche Probleme) sind typische Beispiele von Rumination. Rumination tritt auch als Symptom von Depressionen und Burnout auf.
Konzentrationsschwierigkeiten
Akuter und chronischer Stress führen aufgrund der neurobiologischen Aktivierung und der oben genannten psychologische Folgen auf Emotionen und Gedanken ( z.B. Rumination) zu Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Dadurch werden zum einen die anstehenden Aufgaben nicht so effizient erledigt wie möglich und es kommt zu erhöhter Fehleranfälligkeit. Häufig schaffen es Betroffene auch nicht mehr, zwischen wichtigen und unwichtigen, bzw. dringenden und nicht so dringenden Aufgaben zu unterscheiden. Dies führt in der Folge zu weiterem Zeitmangel und erhöhtem Stress.
Gedächtnisprobleme und Lernschwierigkeiten
Der Hippokampus ist eine Region im limbischen System des Gehirns, die sowohl für Lernen und Gedächtnisfunktionen, als auch für die Stressregulation wichtig ist, und ist eng mit der Amygdala verbunden. Deshalb enthält er viele Rezeptoren, die auf Stresshormone wie Cortisol reagieren. Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass Stress die Fähigkeit des Hippokampus, neue Lernerfahrungen abzuspeichern, behindert. Ausserdem scheint Stress auch zu verringerter Neubildung von Nervenzellen im Hippokampus selbst zu führen. Beide Effekte sind besonders auf eine überaktive Aktivität der Amygdala zurückzuführen. Darüber hinaus kann sich auch Schlafmangel negativ auf Lernen und Gedächtnis auswirken (s. unten).
Vermeidungsverhalten
Neben Schwierigkeiten, zwischen wichtigen und unwichtigen, bzw. dringenden und nicht so dringenden Aufgaben zu unterscheiden, kommt es häufig auch zu aktivem Vermeidungsverhalten von wichtigen Aufgaben. Bereits die Gedanken an die vielen Aufgaben führen dazu, dass man sich noch mehr gestresst fühlt, weil man sie für nicht bewältigbar hält.
Aggressivität oder Angst
Wenn Menschen gestresst sind reagieren sie sehr unterschiedlich, jedoch treten bei fast allen ungünstige Persönlichkeitsmerkmale mehr zum Vorschein. Manche Personen reagieren schnell gereizt oder sogar aggressiv auf von außen betrachtet relativ konstruktive Fragen oder Aussagen oder Verhaltensweisen von Mitmenschen (z.B. Reaktionen auf Kritik im Ensemblespiel). Andere werden besonders ängstlich und entwickeln unter Umständen sogar neue Ängste, sind über-vorsorglich bei neuen Herausforderungen (z.B. Reisetätigkeit, Trennungsprobleme) oder leiden verstärkt unter Auftrittsangst.
Resignation & Hoffnungslosigkeit
Gefühle von Resignation und Hoffnungslosigkeit sind ein Warnzeichen und ich empfehle dringend, sich bei diesen Symptomen an eine psychologische Fachperson zu wenden. Meist sind Resignation und starke Gefühle von Hoffnungslosigkeit bereits Anzeichen von chronischem Dauerstress und beginnenden oder bereits bestehende Depressionen oder Burnout. Eine Fachperson kann hier helfen, rechtzeitig aus dem Teufelskreis herauszukommen.
Schlafprobleme
Weil der Sympathikus - das Stressystem des Nervensystems - sowie die Amygdala überaktiv sind kommt der Organismus physisch und psychisch nicht zur Ruhe und es können Schlafprobleme auftreten. Dies ist insbesondere der Fall, wenn Ruminationen z.B. in Form von negativen Gedanken und Sorgen um die Zukunft hinkommen.
Bewältigungsstrategien und warum sie wirken
Entspannungsübungen
Menschen, die regelmäßig Entspannungsübungen praktizieren, können besser mit stressigen Situationen umgehen. Sie lernen, Stresssymptome frühzeitig zu erkennen und gezielte Techniken anzuwenden, um sich zu beruhigen. Entspannungsübungen wie Autogenes Training, Atemübungen und Progressive Muskelentspannung (PMR) können Stress auf verschiedene Weisen reduzieren:
Verminderung der körperlichen Stressreaktion: Diese Übungen fördern die Entspannung der Muskulatur und können den Herzschlag verlangsamen und die Durchblutung in den Muskeln und im Gehirn verbessern. Durch gezielte Atemtechniken wird der parasympathische Nervensystemzweig aktiviert, der für die Entspannung zuständig ist. Dies führt zu einer Verringerung von Stresshormonen wie Cortisol im Körper.
Mentale Ruhe: Autogenes Training und Atemübungen ermöglichen es, den Geist zu beruhigen und das Gedankenkarussell (Rumination) zu stoppen. Dies fördert geistige Klarheit und die Fähigkeit, Stressoren rationaler zu bewerten.
Verbesserung des Schlafs: Entspannungsübungen können Schlafprobleme, die oft mit Stress einhergehen, lindern, da sie die physiologischen Reaktionen auf Stress abmildern. Durch verbesserte Schlafqualität ist der Körper ausserdem besser in der Lage, Stress abzubauen.
Entspannungsübungen haben langfristige Vorteile die über die Bewältigung unmittelbare Stressreduktion hinausgehen können. Sie können langfristig die Widerstandsfähigkeit gegenüber Stress erhöhen, was bedeutet, dass Menschen besser in der Lage sind, zukünftigen Stresssituationen zu begegnen.
Regelmäßiges Üben im Alltag ist entscheidend, um langfristige Vorteile zu erzielen und die Entspannungsübungen auch in stressigen Situationen erfolgreich einsetzen zu können. Ich empfehle sehr, diese Übungen unter Anleitung einer psychologischen Fachperson zu erlernen und individuell zusammen zu stellen, insbesondere wenn sie zur Bewältigung von chronischem Stress oder Angstzuständen eingesetzt werden sollen.
Hier gibt es eine Übung zur Bewältigung von akutem und chronischem Auftrittsstress für Musiker:innen - mit psychologischen Affirmationen, Atemtechniken und Elementen aus autogenem Training und Muskelentspannung
Ablenkung
Ablenkung kann auf neurobiologischer und psychologischer Ebene Stress reduzieren, indem sie verschiedene Mechanismen im Gehirn beeinflusst:
Verminderte Aktivierung der Amygdala: Die Amygdala ist ein Teil des Gehirns, der für die Verarbeitung von Emotionen, insbesondere von Angst und Furcht, verantwortlich ist. Wenn wir uns auf eine stressige Situation konzentrieren, und darüber nachgrübeln (Rumination), kann das die Aktivität der Amygdala weiter erhöhen. Ablenkung, wie das Fokussieren auf eine andere Aufgabe oder Aktivität, kann die Aktivierung des präfrontalen Kortex und der Amygdala reduzieren und somit die emotionale Belastung verringern.
Aktivierung des Belohnungssystems: Ablenkung kann das Belohnungssystem im Gehirn aktivieren, insbesondere den Nucleus accumbens. Wenn wir uns in eine angenehme oder interessante Aktivität vertiefen, werden Belohnungsneurotransmitter wie Dopamin freigesetzt, was zu positiven Gefühlen und einer Abnahme von Stress führen kann.
Reduzierte Rumination: Ablenkung unterbricht kreisende Gedanken, indem sie unsere Aufmerksamkeit auf andere Dinge lenkt. Dadurch können wir aus dem Teufelskreis der stressigen Gedanken ausbrechen und unseren Stresspegel senken.
Entspannung der Stressreaktion: Ablenkung kann auch dazu beitragen, die körperliche Stressreaktion zu reduzieren, indem sie den Sympathikus (Teil des autonomen Nervensystems, der für die "Kampf-oder-Flucht"-Reaktion verantwortlich ist) beruhigt und den Parasympathikus (Teil des autonomen Nervensystems, der für Entspannung zuständig ist) aktiviert. Dies führt zu einer Senkung von Herzfrequenz und Blutdruck.
Manche Menschen finden Ablenkung durch kreative Aktivitäten wie Malen oder handwerkliche Tätigkeiten, während andere sich durch körperliche Betätigung, Meditation oder das Lesen eines Buches ablenken können.
Selbstfürsorge & aktive Pausen
Sich trotz Zeitmangels und einer vollen To-Do-Liste Zeit für sich selbst und tägliche Routinen zu nehmen, ist sehr hilfreich bei der Bewältigung von Stress. Das gleiche gilt für das aktive Praktizieren von Pausen. Beides kann sowohl ungünstige psychologische Muster wie Rumination und Vermeidungsverhalten reduzieren, wie auch die Konzentration und Effizienz bei den anstehenden Aufgaben erhöhen. Welche Arten von Pausen und Routinen hilfreich und als angenehm empfunden werden, ist sehr individuell.
Beispiele für selbst-fürsorgliche Routinen und Pausen (15-30 min):
ein täglicher Spaziergang am Morgen
eine geplante & vielleicht sogar zelebrierte Kaffee- / oder Teepause
morgendliche oder abendliche Leseroutine, vielleicht im Lieblingssessel oder auf dem Balkon
an einem Bild malen oder zeichnen, Puzzeln
eine warme Badewanne (die Wärme und ggf. ätherische Badeöle wirken zusätzlich entspannend
einen Lieblingspodcast hören oder Zeitung lesen
ein Emotions- oder Danbarkeits-Tagebuch schreiben (siehe auch Positive Psychologie für Musiker:innen)
Joggen, Radfahren, Yoga oder Pilates
Psychologische Beratung
Psychologische Beratung kann für Musiker:innen äußerst hilfreich sein, da sie spezifische Strategien und individuelle Unterstützung bietet, um mit den einzigartigen Belastungen und Herausforderungen der Musikbranche umzugehen. Musiker stehen oft unter hohem Druck, sei es durch Auftritte, kreative Blockaden, zwischenmenschliche Konflikte in Ensembles und Orchestern und in der Familie, den gesellschaftlichen und individuellen Leistungsanspruch und einer unsicheren Zukunft. Eine psychologische Beratung kann Musiker dabei unterstützen, ihre individuellen Stressoren zu identifizieren, Bewältigungsmechanismen zu entwickeln und gesunde Wege zur Stressbewältigung zu erlernen - insbesondere bei Hochsensibilität. Darüber hinaus kann psychologische Beratung helfen, individuelle Reaktionen und Verhaltensmuster (Schemata) zu bearbeiten und dadurch langfristig die mentale Gesundheit zu fördern, Selbstvertrauen aufzubauen sowie zwischenmenschliche Beziehungen und kreative Prozesse zu verbessern. Eine solche Beratung bietet auch einen sicheren Raum, um über persönliche oder berufliche Herausforderungen zu sprechen.
Quellen und weiterführende Literatur
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