Seit ich denken kann nehme ich Musik in Farben und Formen wahr - ich habe Synästhesie. Synästhesie ist eine seltene aber gesunde Form der Wahrnehmung, bei der ein Sinnesreiz (z.B. das Hören) eine Empfindung in einem anderen Sinn (z.B. Sehen) auslöst. Hier stellt mir eine langjährige Kammermusikpartnerin und Freundin, die ein Bild bei mir in Auftrag gegeben hat, Fragen zu meiner Wahrnehmung und wie ich diese in Acryl-Bilder umsetze.
Johannes Brahms - Rhapsodie Nr.2, Op.79, (gespielt von Martha Argerich, Deutsche Grammophon 1960)
Hast du einen Textkommentar dazu, was wir in diesem Bild sehen, oder ist das an sich selbsterklärend?
Das ist eine gute Frage! Jede:r Synästheth:in hat eine individuelle Wahrnehmung, d.h. für jemand anderen könnte dasselbe Stück völlig andere Farben und Formen haben oder sogar nach etwas schmecken.
Wie du siehst ist das Bild zweigeteilt. Da die Rhapsodie Nr. 2 von Brahms starke Stimmungswechsel hat, bot sich an, das so darzustellen. Oft haben meine Bilder ausserdem mehrere überlagerte Ebenen, wie bei diesem hier auch. Generell kann ich ja meine Wahrnehmung nicht zeitlich darstellen. Daher sind die Bilder immer eine Mischung aus Gesamteindruck und einzelnen, charakteristischen Aspekten der Musik. Die Farben sind eigentlich immer durch Tonhöhe und Harmonie bestimmt und damit gegeben. Formen, Relationen, Aufteilung und Textur sowie Farbverläufe setzte ich unterschiedlich ein, um das ganze künstlerisch darzustellen. Das kann der Rhythmus sein, die Instrumentierung, Klangfarbe, Spielweise etc.
Was sehen wir nun im unteren Teil?
In diesem Fall ist der untere Teil durch Formen geprägt, weil er die folgende immer wieder kehrende Rhythmische Figur darstellt:
Meistens sind tiefe Strukturen natürlich visuell auch am unteren Sichtfeldrand also mache ich es auch im Bild so. Wenn es visuell-ästhetisch gar nicht passt, nehme ich mir allerdings die Freiheit, die Aufteilung anzupassen.
Wenn ich jeden Ton der Reihe nach malen würde, wäre das viel zu detailliert und es wären natürlich sehr viele, einzelne Farben. In diesem Abschnitt des Musikstücks entsteht der Eindruck der Figuren durch die dominierenden Ton/Harmoniefarben. Also viel rotbraun (z.B. tiefes G), dunkelbraun, rot, weinrot, und lila wegen der harmonischen Mischung mit den anderen Tönen. Dabei spielen auch die Obertöne und die Klangfarbe des Instruments eine grosse Rolle.
Und was sehen wir in der oberen Hälfte?
Der obere Teil entspricht den triolischen Legato-Figuren. Bei so einer Passage muss ich mich immer entscheiden, ob ich sie als Klangteppich male, oder in feineren Strukturen. Weil ich bereits den unteren Teil eher figural dargestellt habe, habe ich mich hier entschieden, den oberen Bereich flächig darzustellen. Man kann sich das vorstellen, als würde man in ein Foto hinein- oder herauszoom, bzw. den Wald oder die einzelnen Bäume betrachten.
Dabei stellt der grün-blau-gelbe Bereich vor allem diesen Teil dar:
Und der rot -gelb -orangene Bereich jenen Teil:
Man sieht also sehr deutlich den harmonischen Unterschied, rhythmisch ist es aber ja relativ ähnlich.
Und was sind diese weissen Schleier?
Die weissen Schleier sind in diesem Fall eine dieser zusätzliche Ebene, von denen ich vorhin sprach. Mehrere Abschnitte in der Rhapsodie haben sehr viele Kreuzvorzeichen. Kreuze fügen der geschriebenen Note meistens ein weiss oder grauen Teil hinzu, der den Ton quasi gestreift macht. Tonarten mit vielen Kreuzen sind daher häufig verschleiert bis wirklich musterhaft gestreift. Das hängt dann wiederum sehr von Rhytmus, Spielweise und Instrument ab. Diese beiden Stellen hier fügen also dem Gesamteindruck diese weissen Schleier hinzu.
Da sieht man wieder wie viele Möglichkeiten es gibt, das Musikstück als Ganzes und den zeitlichen Verlauf in einem beschränkten 2D Bild darzustellen. Ich hätte diese Abschnitte ja auch neben die anderen packen können. Erst hatte ich sie gar nicht drin, aber mir hat etwas gefehlt und mir gefällt es so nun besser. Es hat mehr Tiefe.
Ich nehme an, du kannst die Struktur deiner Synästhesie nicht beeinflussen. Oder hängt das vielleicht doch von der Tagesform ab?
Ohja, das hängt durchaus von der Tagesform und bei mir als Frau auch von meinem Hormonzyklus. Als Neurowissenschaftlerin bin ich durch meine langjährige Forschung über Musikwahrnehmung im Gehirn auch davon überzeugt, dass sie die Qualität (nicht die Güte) des musikalischen Gehörs bei Frauen mit natürlichem, d.h. nicht hormonell verändertem Zyklus, zyklisch verändert. [An dieser Stelle muss ich einwerden, dass daraus nicht geschlossen werden kann, dass Frauen aufgrund von zyklischen Schwankungen schlechter hören als Männer. Auch bei Männern schwanken physiologische Funktionen und Leistungen wie das Gehör - nur eher in einem Tages- oder Wochenrhythmus anstatt in einem monatlichen Rhythmus.]
Bei mir ist manchmal alles eher matt und verschleiert, ich sehe die Farben kaum oder kann sie nicht klar erkennen. An anderen Tagen ist es dagegen fast grell und manchmal einfach wunderschön leuchtend. An diesen Tagen ist jeder einzelne Ton wie ein Regenbogen und es ist wie wenn ich jeden einzelnen Oberton im Spektrum sehe. Kaffee und Alkohol können ähnliche Wirkungen haben ebenso wie Adrenalin auf der Bühne. Obwohl Kaffee und Adrenalin ja beide anregen, wirkt Kaffee bei mir eher dämpfend, während Adrenalin und Alkohol (in Massen) die Farben verstärken.
Mich würde noch interessieren... Wenn Fagott oder Cello das selbe (Solo-)Stück in der selben Lage spielen würden, was würde sich denn da verändern in deiner Sicht der Dinge? Und gefallen dir dann (logischerweise?) die Cello-Farben besser?
Nein, natürlich ist das nicht ganz gleich. Das wäre ja wie wenn man dann gar nicht mehr sagen könnte, welches Instrument spielt. Die Farben sind schon ähnlich - wegen der Tonhöhen. Aufgrund der Instrument spezifischen Formanten und Resonanzen kann es aber sein, dass manche Töne sogar ganz andere Farben haben. Aber die meisten werden sehr ähnlich sein und sich nur in Helligkeit, Textur, Wärme und Sättigung unterscheiden. Ähnlich wie sich die Farben auch bei der Klangfarbengestaltung am selben Instrument je nach Spielweise (und Instrumentalist:in) unterscheiden können. Man kann sich vorstellen wie einen Instagram-Filter für Fotos.
Und wie ist das, wenn zwei Cellist:innen dasselbe Werk interpretieren?
Das ist sehr interessant! Im Prinzip sind die Farben und die Formen auch wieder durch die Musik bereits gegeben, aber das Ergebnis kann sich sehr unterscheiden. Besonders Variation in der Klangfarben-Gestaltung, kann mehr oder weniger zusätzliche Obertonfarben hinzufügen und die Textur und Struktur der Farben komplett verändern. Der gleiche Ton ist dann vielleicht bei einer Version leuchtend rot, bei einer anderen milchig rot und bei einer dritten hat das rot noch einen gelben Kern, oder ist nach oben lila ausgefranst. Viele Unterschiede des Gesamteindrucks hängen natürlich auch vom Spieltempo ab.
Seit wann weisst du, dass du Synästhesie hast?
Synästhesie ist ja eine angeborene Eigenschaft. Ich erinnere mich, dass ich schon im Kindergarten beim Singen in der Gruppe die Töne farbig wahrgenommen habe. Als ich 16 war hat meine Klavierlehrerin per Zufall in dem Buch "Der einarmige Pianist" des Neurologen Oliver Sachs ein Kapitel über Synästhesie gelesen. Sie hatte sich immer gewundert, wenn ich von blauen oder grünen Tönen gesprochen hatte. Am Anfang meines Klavierunterrichts hatte ich Schwierigkeiten die Klaviertasten zu den selben Noten im Bass- und Violinschlüssel zuzuordnen, weil die selbe Note notiert in einem anderen Schlüssel zunächst auf dem Papier die gleiche Farbe hat, aber wegen des Schlüssels ein anderer Ton ist. Ich musste erst lernen, die neuen Farben (des Bassschlüssels) im untere Notensystem zu "sehen". Ich habe ihr das immer mit den Farben erklärt und sie hat es wohl einfach für eine Assoziation gehalten - bis sie das Buch gelesen hat.
Und hast du noch andere Formen von Synästhesie? Und wie siehst du die Farben?
Ja. Wie die meisten Personen mit Synästhesie habe ich auch eine Graphem-Farb-Synästhesie, das heisst, ich sehe geschriebene Buchstaben und Zahlen farbig. Ich habe das ausserdem auch für geschriebene Noten (daher die Probleme mit den verschiedenen Schlüsseln, die habe ich auch heute noch, aber erzähl das nicht meinen Lehrern ;-) ). Auch die Klaviertasten sind farbig. Ausserdem nehme ich Körpergefühle, Schmerzen, Bewegungen und Positionen (wie z.B. Lagen der Hand und Finger am Cello) teilweise farbig war. Formen haben auch oft Farben z.B. Besteck (Messer sind rot, Gabeln grün...). Zahlen, Wochentage und Monate nehme ich ausserdem als Strukturen im Raum war, in etwa wie Leitern.
Man unterscheidet bei Synästhesie "Assoziator:innen" von "Projektor:innen". Assoziator:innen empfinden die zweite Sinneswahrnehmung überwiegend im Kopf, wie auf einem inneren Bildschirm. Projektor:innen "sehen" sie im Raum oder projiziert auf z.B. Objekte oder den Körper. Ich bin Projektorin, d.h. die Farben sind bei mir im Raum wie auf einer zweiten Ebene, auf dem Notenblatt, auf dem Instrument, Gegenständen und bei Klängen tatsächlich im Raum. Dabei dehnen sich die Klänge je nach Lautstärke mehr im Gesichtsfeld aus oder kommen aus der Richtung, von wo der Schall herkommt.
Stört einen das eher oder ist es ein Feature?
Im Grossen und Ganzen ist es ein Feature. Es half mir schon früher oft dabei, mir Dinge besser zu merken, viele Noten am Klavier gleichzeitig vom Blatt zu spielen oder Körperbewegungen nachzuempfinden. Im Unterricht beobachte ich oft meine Lehrer genau und denke dann so etwas wie "ah, die Hand macht eine gelbe Bewegung", "der Finger ist etwas mehr in einer blauen Haltung" oder "ein bisschen mehr türkis am Ende des Tons". Auch Obertöne kann ich wegen der Farben gut raushören, es ist bei der Klangfarbengestaltung, wie wenn man ein Bild malt.
Wenn mehrere Farben zusammen kommen, oder die Farben verschiedene Ursachen haben können, kann es aber auch schnell verwirren und zu verschiedenen Fehlern führen. Zum Beispiel höre ich sehr Klangfarben orientiert, dass heisst, ich sehe oft eher die Farben der Obertöne, als die der Grundtöne. Das führt dazu, dass ich ähnliche Intervalle oft verwechsle (z.B. Quinten, Oktaven und Quarten). Ausserdem ist die geschriebene Farbe der Note oft nicht die richtige auf einem Instrument wie dem Cello, auf dem die Töne je nach Kontext anders intoniert werden. Es ist schon die gleiche Kernfarbe, z.B. Gelb, aber in einer anderen Helligkeit bzw. Sättigung. Auch in einer anderen Stimmung oder Transponiert in einer anderen Oktave sind die Farben anders. Wenn ich den gelben Ton dann noch mit einem roten Finger spielen muss, und über der Note eine hellgrüne "2" steht, dann ist das Chaos perfekt ;-).
Man muss sich das vorstellen wie wenn man das Wort "rot" in blauer Farbe geschrieben sieht, und die Druckfarbe benennen soll, aber nicht das Wort vorlesen. Wenn viele Personen gleichzeitig durcheinander reden, ich ausserdem etwas lese oder mich konzentrieren muss, dann ist das für mich auch schnell eine Reizüberflutung.
Und kann man das auch ausschalten, wenn man möchte?
Oft unterdrücke ich die Farben unbewusst ein bisschen, so wie wenn man einfach Nebengeräusche im Grossraumbüro ausblendet. Ansonsten wäre das gar nicht zu ertragen. Das hat aber auch den Nachteil, dass ich das auch manchmal beim Cellospielen automatisch mache, besonders, wenn ich mich auf das Beobachten der Bewegungen meiner Lehrer:innen oder Mitspieler:innen, oder die gedruckten Noten konzentriere. Bewusst die Farben aktiv ein und auszuschalten ist nicht so einfach. Aber ich habe kürzlich eine neue Beobachtung gemacht, wie das vielleicht geht, und eine neuropsychologische Theorie dazu. Ich denke das hat mit der Aktivierung der linken bzw. rechten Gehirnhälfte zu tun. Manchmal benutzen wir nämlich mehr die eine und manchmal mehr die andere Hirnhäfte, wobei viele Menschen eine dominanten Gehirnhälfte haben. Aber das geht jetzt hier zu weit. Allerdings ist es so, dass Synästhesie sehr unbewusst abläuft. Das bedeutet bei mir sogar: wenn ich es erzwingen will, sehe ich die Farbe nicht (z.B. wenn mich jemand auffordert, ein Intervall zu benennen). Ich kann das irgendwie nur unbewusst, wenn ich mich nicht darauf konzentriere oder gleichzeitig etwas anderes mache.
Sind Musikgeschmack und Farbgeschmack korreliert, also gefallen dir Stücke, in bestimmten Farben wegen dieser Farben besser als andere?
Nein. Es gibt Stücke, die gefallen mir musikalisch wahnsinnig gut, aber ich würde sie nicht gerne malen, weil die Farben eigentlich nicht zusammen passen. Aber es gibt schon Tonarten, die mir deshalb besser gefallen als andere.
Quellen und Leseempfehlungen zu Synästhesie & Wahrnehmung
Sacks, O. (2010). Musicophilia: Tales of music and the brain. Vintage Canada.
Jede Wahrnehmung ist anders (Interview im SRF mit Prof. Lutz Jäncke): https://www.srf.ch/wissen/mensch/hirnforschung-warum-jede-person-die-welt-anders-sieht
Hier gibt es eine wunderbare 360 Grad Simulation derpersönliche, musikalischen Synästhesie, der Software-Ingenieurin, Neurowissenschaftlerin und Musikerin Kaitlyn Hova:
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